Trapez
du was ausprobieren und dich nicht erst lange umziehen willst, da mit deinen Stra ß enklamotten nach oben zu steigen. Und was die andere Regel betrifft: Es versteht sich von selbst, dass in einer Familie wie dieser jeder neugierig darauf ist, was die anderen machen, und so funktioniert das nun: So wie du arbeitest, hast du automatisch Vorrang gegenüber de n jenigen, die nicht in der Nummer sind. Also, wenn du nicht möchtest, sagen wir mal in den nächsten paar Wochen, wenn du wieder in Form kommen willst, dass meine Mutter und die Kinder beim Üben zusehen – und mach dir nichts vor, sie werden neugierig sein – , bitte sie einfach zu gehen. Sie werden dich nicht für unhöflich halten, so läuft es eben in unserer Familie. Das funktioniert auch andersrum. Wenn hier jemand anders übt oder trainiert – sagen wir m al Johnny und seine Partnerin –und du kommst dazu, fragst du, ob du zusehen darfst.
Wenn sie ja sagen, okay, dann siehst du von hier unten zu oder von der Galerie oben, wie du willst. Wenn sie nein sagen, verschwindest du sofort, ohne zu widersprechen oder beleidigt zu sein.«
»Aha!«
»Einigen von uns macht es nichts aus und einigen schon. Liss, zum Beispiel, meine Schwester. Wenn sie übt, ist sie empfindsam wie eine Katze, und es macht sie verrückt, wenn irgendjemand zuguckt. Papa Tony ist schlimmer als Liss, obwohl er sich viel besser unter Kontrolle hat.« Tommy erinnerte sich an Papa Tony, wie er unterwegs die Zirk uskinder während der Proben vom Trapez wegjagte. »Angelo ist es egal, so oder so. Cleo war eine richtige Angeberin. So ist das eben!«
Tommy fragte sich, wer Cleo war und wie es mit Mario selbst war, aber er mochte nicht fragen. Mario fuhr fort:
»Die niedrigen Trapeze für die Kinder zählen nicht. Du kannst daran trainieren und an den Barren und auf den Matten, wann du willst, ohne dass irgendjemand dabei ist. Barbara macht ihre Ballettübungen an der Stange hier unten. Deswegen haben wir da drüben den niedrigen Spiegel. Lucia ließ ihn aufhängen, als Liss und ich Kinder waren.«
»Du sagst, du wohnst nicht hier im Haus?«
»Nein, ich liebe meine Familie, aber ich muss einfach ab und zu raus, oder ich werd’ verrückt. Ich krieg’ genug fratelaccio unterwegs.«
»Genug was?«
Mario kicherte. »›Familiensinn‹, aber wiederhol es in dieser Form nicht vor Papa Tony. Das richtige Wort ist fratellanza. Ich wohn’ jedenfalls draußen in Santa Monica. Ich komm’ hier meist zum Essen her, und manchmal schlafe ich hier, wenn die Proben hart waren. Aber ich wohne ganz gern allein. Oh, sie ziehen mich damit auf.
Liss macht immer Witze über meine Opiumhöhle, Lu ist wahrscheinlich überzeugt, dass ich dahin immer Frauen mitnehme, und Angelo hofft, dass ich’s tue.«
»Hä?«
Mario lächelte gezwungen. »Familienwitz! Vergi ss es, ja?«
Aber es klang nicht so ganz wie ein Witz. Und Tommy fragte plötzlich: »Hast du ‘ne feste Freundin?«
Und genauso plötzlich war Mario verärgert. »Wann, zum Teufel, würde ich wohl Zeit für Mädchen haben? Ich bin acht Monate im Jahr unterwegs, und den Rest der Zeit arbeite ich. Nein, zum Teufel!«
Aber so war’s nicht, dachte Tommy, nicht mal unterwegs. Es gab Männer bei der Show, die in jeder Stadt Mädchen kannten, und in der Show kamen sowieso zwei Mädchen auf jeden Mann. Wovon sprach Mario überhaupt? Aber er ritt nicht darauf herum, sondern kam wieder auf die gerahmten Regeln zurück.
»Was war das da unten zum Schlu ss über Disziplin?«
»Ein Artist zeichnet sich durch die sorgfältige Einhaltung der Disziplin aus«, las Mario wieder.
Papa Tony stand in der Tür und wiederholte die Worte:
»Ein Artist zeichnet sich durch die sorgfältige Einhaltung der Disziplin aus.« Er kam herüber, und Tommy bemerkte, dass er sogar aus seinen weichen Pantoffeln geschlüpft war und barfuß ging. Aber sogar barfuß und mit aufge rollten Ärmeln hatte er immer noch die Würde eines Königs in seinem eigenen Reich.
»Du hättest ruhig mit der Führung bis morgen warten können«, tadelte er sanft. »Tommy wird sicher müde sein und Hunger haben.« Aber Tommy hatte den Eindruck, dass es ihm überhaupt nicht mi ss fiel, sie hier unten zu finden. Papa Tony legte eine Hand auf Tommys Schulter und die andere auf die seines Enkels.
»Ich sehe, du bist schon in die Tradition unserer Familie eingeweiht worden. Hat er dir erzählt, wie viele Jahre die Santalis-Familie Artisten waren, hier und in Europa?
Aber la ss dich dadurch nicht
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