Trapez
Nacht, wenn wir uns fertig machen für die Reise, nur noch denken ›Verdammt, wir packen alles nur noch in die Kiste und hauen ab nach Haus‹.«
Der Raum, in dem sie standen, maß ungefähr fünf Meter im Quadrat und wurde durch ein riesiges Milchglasfenster erhellt. An der einen Wand stand ein langer, niedriger Tresen mit einem quadratischen Spülbecken in der Mitte. Es war früher ein Anrichtezimmer gewesen, und die Schränke über und unter dem Tresen waren grob zu Spinden getischlert worden. An einer anderen Wand hing ein Schwarzes Brett, das sich Tommy näher ansah.
Mario folgte langsam. »Das ist eine Abschrift der Hausregeln. Mehr oder weniger auf Englisch «, sagte er.
»Lucia hat es aufgehängt, als eine Menge fremder Leute hier ein und aus gingen.
Tommy stand auf Zehenspitzen, um es zu lesen:
ALLE GYMNASTIKGERÄTE SIND GEFÄHRLICH,
WENN SIE FALSCH BENUTZT WERDEN!
Für unsere und eure Sicherheit bitten wir euch, die folgenden Regeln zu beachten:
1. Bitte, tragt nie Straßenkleidung und Schuhe im Übungsraum.
2. Geht NICHT auf das Trapez, außer wenn euer Betreuer oder Lehrer bei euch ist.
3. Verändert NIEMALS und unter gar KEINEN Umständen auch nur das Geringste an IRGENDEINEM Teil des Trapezes.
4. Meine Damen: Euer Haar muss gut festgesteckt sein, damit es euch nicht in die Augen hängt.
5. Bitte, hier nicht rauchen.
6. JEDER, DER STÄNDIG UNSERE REGELN VERLETZT, ERHÄLT ZUTRITTSVERBOT!
»Du wirst dich über d ie Leute wundern«, sagte Mario, »die meinen, dass diese Regeln unvernünftig sind. Aber Papa Tony hat ein halbes Dutzend Leute rausgeworfen, die sie nicht eingehalten haben. Egal, wie viel sie bezahlt hatten, um hier zu üben oder Stunden zu nehmen. Ich könnte dir über jede einzelne dieser Regeln eine komische Geschichte erzählen. Aber wir hatten hier nie einen ernsten Unfall, und darauf sind wir stolz.«
Es hing noch mehr am Schwarzen Brett: ein halbes Dutzend Zirkuskarikaturen aus Zeitungen oder Zeitschriften ausgeschnitten, ein paar verwackelte Schnappschüsse, im Übungsraum aufg enommen, von verschiedenen Fami lienmitgliedern und Fremden, und ein kleines, gemaltes, hölzernes Schild, au f dem einfach stand: NIEDER MIT DEM GESETZ DER SCHWERKRAFT!
Tommy kicherte. »Klar, ohne Schwerkraft wären wir gemachte Leute.«
»Oh, da bin ich nicht so sicher. Ohne sie würde jeder fliegen können, und wie sollten wir dann unser Geld verdienen?«
Ein großes Stück ungerahmter Karton war an die angrenzende Wand geheftet. Darauf stand mit kindlichen, aber sehr sauber gesch riebenen roten Buntstiftbuchsta ben:
ANGELO SANTELLIS
FLUGUND BESSERUNGSANSTALT
Launen Tränen
und Wutanfälle
müssen bei der Verwaltung zur Aufbewahrung
abgegeben werden.
LASCIATE OGNI SPERANZA, VOI CH’ENTRATE.
Rundherum waren kleine witzige Buntstiftzeichnungen von Fliegern gemalt: ein Affe, der an einem Fuß vom Trapez hing, ein Mädchen mit einem langen Pferdeschwanz, das durch einen Reifen sprang, der von einer grotesken Figur mit einem riesigen Schnauzbart gehalten wurde, ein Fänger, der kopfüber hing und auf eine riesige Uhr schaute, deren Zeiger auf Mitternacht standen. Die Zeichnungen waren amateurhaft, aber sie hatten die treffende Schärfe von Karikaturen. Die Figur mit dem Schnauzbart war offensichtlich Papa Tony, und das Mädchen mit dem Pferdeschwanz hatte starke Ähnlichkeit mit Mario, mit den schrägen Augenbrauen der Familie. Tommy brach in Gelächter aus. »Wer hat das denn gemacht?«
»Meine Schwester Liss«, sagte Mario, »sie war ungefähr fünfzehn, glaube ich.«
»Was bedeuten die italienischen Worte?«
»La ss t jede Hoffnung, die Ihr mich durchschreitet«, übersetzte Mario. »Die sollen über den Höllenpforten in Dantes Inferno stehen.«
Tommy kicherte. »›Flugund Besserungsanstalt‹, was?«
»Das war während einer Winterpause«, sagte Mario.
»Angelo hatte uns gerad e ein paar leichte Fänge und An fängertricks üben lassen. Und – na ja – Liss hat nun mal viel Temperament. Und eines Tages hat Angelo sie angeschrien. Eine ganz gewöhnliche Bemerkung. Das heißt , gewöhnlich für Angelo! So was wie: ›Zieh deinen dicken, fetten Hintern ein!‹ Du weißt ja, wie taktvoll er ist.«
Tommy lachte. Er erinnerte sich an einige von Angelos taktvolleren Bemerkungen. »Ja sicher.«
»Na ja, Liss war so verärgert oder beleidigt oder wütend oder was auch immer, dass sie sich ins Netz fallen ließ und genau dort einen Tobsuchtsanfall hatte. Und
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