Trauerspiel
Armbanduhr: 23.00 Uhr. Sie gähnte herzhaft, der Tag war lang gewesen. Wo Julia bloß blieb? Sie wollte doch unbedingt heute Abend noch einen Termin haben. Was wohl dem Mädchen dazwischengekommen war? Susanne entschloss sich, noch eine Viertelstunde zu warten und dann nach Hause zu gehen. Oder sollte sie noch bei Tanja vorbeischauen, die heute Abend mit ihren Kollegen von der Kriminalpolizei und Freunden ihre Rückkehr nach Mainz feierte? Vielleicht auf einen Sprung, die ganze Truppe war ja nicht weit entfernt. Sie hatte sich zwar schon mit dem Hinweis auf ihren Bibelkreis abgemeldet, aber sie wusste, dass Tanja sich sehr darüber freuen würde, wenn sie doch noch käme. Susanne gähnte wieder. Träge räumte sie die Gesangbücher, die der Bibelkreis liegengelassen hatte, in den dafür vorgesehenen Ständer. Inzwischen war es 23.20 Uhr. Julia würde wohl nicht mehr kommen. Merkwürdig, sie war sonst eigentlich immer zuverlässig. Sie kannte das Mädchen von Konfirmandenfreizeiten her, auf die Julia als Mitarbeiterin (Teamerin, wie das auf Neudeutsch hieß) mitgefahren war. Auf Julia konnte man sich dabei wirklich verlassen, sie hatte ihre Aufgaben stets gewissenhaft vorbereitet und nahm – bei allem Spaß, den so eine Freizeit mit sich brachte – ihre Pflichten ernst. Was wollte Julia überhaupt mit ihr besprechen? Susanne hatte nachgefragt, aber nur eine ausweichende Antwort erhalten.
«Das sage ich Ihnen lieber unter vier Augen, Frau Hertz, Sie fallen ja unter die Schweigepflicht», hörte sie noch Julias hastig klingende Stimme durch den Hörer. «Wahrscheinlich ein akuter Anfall von Liebeskummer, und jetzt ist der Angebetete doch noch vorbeigekommen, die beiden schmusen und vergessen sich und die Welt», mutmaßte Susanne. «Ach, glückliche Jugend!» Dabei fiel ihr das eigene, eher nicht vorhandene Liebesleben ein. Inzwischen war sie zwar über das schreckliche Ende ihrer letzten Beziehung hinweggekommen, aber neue Perspektiven hatten sich noch nicht ergeben. Susanne erinnerte sich mit einem leichten Anflug von Beschämung an einen Abend mit Kommissar Arne Dietrich, dem Kollegen ihrer Freundin Tanja, die für ein Jahr zu einem Auslandseinsatz nach Rumänien gegangen war, um die rumänische Polizei auszubilden. Arne und sie hatten einen schönen Opernabend verlebt (La Traviata, das konnte ja nur böse enden…), anschließend hatten Susanne und Arne sich gemeinsam leid getan, weil Tanja so weit weg war und zwei Flaschen Dornfelder später beschlossen, sich gegenseitig noch schöner zu trösten. Nach allem, woran sich Susanne am nächsten Morgen erinnern konnte, war es gar nicht so schlecht gewesen. Trotzdem hätte sie besser auf ihre Mutter gehört, die ihr den weisen Sinnspruch mit auf den Lebensweg gegeben hatte: «Was auch immer du nach einer Flasche Wein planst: Lass es sein.» Leider war es diesem mütterlichen Sinnspruch wie den meisten elterlichen Weisheiten ergangen: im entscheidenden Moment werden sie vergessen. Susanne hatte es nach ihrer Flasche Dornfelder eben nicht sein lassen und sich am nächsten Tag neben einem verkaterten Arne im Bett vorgefunden. Sie selbst war in keiner besseren Verfassung. Beide hatten immerhin das Kunststück hinbekommen, mit Anstand ein gemeinsames Frühstück einzunehmen, bevor Arne sich mit einer verlegenen Umarmung von ihr verabschiedete und zum Dienst trottete. Sie war ihm wirklich dankbar, dass er sie am späten Nachmittag wieder anrief und sich mit ihr auf ein Glas Wein («Wirklich nur eins, wenn du willst, kann es auch Kamillentee sein») verabredete. In Susannes Wohnzimmer, bei Wein (Susanne) und Wein (Arne) – beide waren eben hart im Nehmen – einigten sie sich, dass sie Freunde bleiben wollten. Das war ihnen auch tatsächlich gelungen, zu Susannes großer Erleichterung. Denn es wäre wirklich bitter gewesen, auf den witzigen, netten Arne als Freund zu verzichten, der außerdem gerne ihr Begleiter bei kulturellen Veranstaltungen war, zu denen sie ihre Freundin Tanja höchstens in einer Zwangsjacke hätte mitschleppen können.
Arne würde sich bestimmt auch freuen, wenn sie heute Abend noch zu der Begrüßungsparty von Tanja käme. Auf Julia müsste sie jetzt, eine Stunde nach der verabredeten Zeit, wohl wirklich nicht mehr warten. Susanne schaltete die Lichter in der St. Johanniskirche aus, schloss die Eingangstür sorgfältig ab und lief los. Auf die Mülltonnen in der dunklen Ecke an ihrer Kirche verschwendete sie keinen Blick.
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«Susanne, toll,
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