Trauerspiel
Gemüt wie Zimmermann haben, um dabei keine Depressionen zu bekommen. Brigitte und Richard Moll saßen mit steinernen Gesichtern in der ersten Reihe, Susanne bewunderte sie für ihre Anwesenheit bei der Trauerfeier für den Mörder ihrer Tochter. Aber vielleicht war das tatsächlich der beste Weg, mit ihrer Trauer, dem Entsetzen und dem Schmerz umzugehen. «Dies irae, dies illa», scholl es aus dem Lautsprecher. Verdi, das Requiem.
«Ein schrecklicher Tag, tatsächlich», dachte Susanne. «Ob sich Michael Berger vor seinem himmlischen Richter für seine Taten verantworten musste? Die markerschütternden Trompetentriller vermittelten eine Ahnung davon, wie sich Verdi dieses Gericht vorgestellt hatte, und die Schläge der großen Trommel wirkten nicht gerade tröstlich für die, die dieses Gericht zu fürchten hatten. Man hörte die Schar der Verdammten förmlich ins Höllenfeuer schreiten. Hatten Brigitte und Richard Moll Verdis Musik ausgewählt, um sich mit solchen Gedanken zu trösten?»
Jetzt wurde die Musik leiser, wie nachdenklich. Susanne spürte, wie erschöpft und traurig sie war. Mit einem Trompetenfinale klang der erste Teil der Musik aus.
Susanne erinnerte sich an Michael Berger, an einen Menschen, der seine reichen Begabungen irgendwann einmal nicht mehr in den Dienst des Guten, sondern in den des Bösen gestellt hatte. Sie dachte an Julias Eltern, die ihr einziges Kind verloren hatten und an das blaue Haus in der Goldenluftgasse, dessen warme Atmosphäre erloschen war. Sie dachte an Elisabeth Berger – wie immer trug sie einen exquisiten Hut im Stil von Queen Mum –, die ihr auf einer Gartengesellschaft formvollendet ein Glas Sekt reichen ließ, und sie stellte sich eine zugespitzte Fahrradspeiche vor, die in ihren Rücken drang. Sie dachte an Julia und erinnerte sich an das lebendige, schöne Mädchen und an die traurige tote Gestalt vor der Johanneskirche.
Es war ein Trauerspiel, dachte sie, ein echtes Trauerspiel.
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