Trauerspiel
Die Fenster, die tatsächlich noch die alten waren, was ihr schimmernder und schillernder Glanz verriet, hatten gesehen, wie Mainz in Schutt und Asche gesunken war. Jetzt wurden sie Zeuge, wie eine Familie zerstört wurde. Und niemand würde das wieder aufbauen können, was ein Mensch grausam zerstört hatte. Im Vorgarten blühten bunt die Rosen. «Moll» stand in klaren Buchstaben auf dem Messingschild an der Haustür. Susanne klingelte. Julias Mutter öffnete. Sie war eine schmale, unauffällige Frau mit knabenhafter Figur. Ihre blonden Haare trug sie kurz geschnitten und mit Strähnchen, die jedoch eher bieder als raffiniert wirken. Als sie die Pfarrerin gemeinsam mit zwei anderen, ihr unbekannten Menschen, erblickte, zeigten ihre erschrocken aufgerissenen Augen, dass sie bereits ahnte, was bald zu einer schrecklichen Gewissheit werden sollte. Glücklicherweise war Richard Moll, Julias Vater, zu Hause und musste nicht von seinem Arbeitsplatz geholt werden. Die beiden hatten ihre Tochter schon als vermisst gemeldet und den ganzen Tag in banger Sorge gewartet. Stumm führte Frau Moll Susanne, Tanja und Arne in das Wohnzimmer, wo ihr Mann wartete. Richard Moll hatte eine etwas steife, norddeutsche Ausstrahlung. Er war ein großer Mann, nicht dick, aber kräftig, mit der Schwerfälligkeit eines freundlichen Bären. Der Kummer hatte ihn gezeichnet. Richard Moll hatte tiefe Ringe unter den Augen, sein schütteres blondes Haar stand wirr vom Kopf ab. Mühsam erhob er sich aus dem Sessel, um die Kommissare und Susanne zu begrüßen – ein gebrochener Mann, der schon befürchtete, was Susanne den beiden dann, so vorsichtig, wie es ging, bestätigen musste. Brigitte und Richard Moll hatten nichts von dem Anruf ihrer Tochter bei Susanne Hertz gewusst, Julia war nur mit einem kurzen Gruß und einem «Bin vor zwölf wieder zurück» aus dem Haus geeilt. Als sie um zwölf nicht zurück war, hatten sie sich noch keine großen Sorgen gemacht, obwohl Julia sonst immer zuverlässig war. Um halb eins war Julias Vater losgegangen, um sein Kind zu suchen. Um drei Uhr nachts hatte er seinen Schwager Michael Berger, den Bruder von Julias Mutter, aus dem Bett geklingelt. Die beiden Männer hatten systematisch alle Gassen der Altstadt und alle Kneipen, die eine Nachtlizenz hatten, aufgesucht. Sie waren bis zu den Stränden am Rhein gelaufen – vergeblich. Heute Morgen hatte Brigitte Moll Julia dann als vermisst gemeldet. Richard Moll hatte mit Hilfe von Michael und von Freunden noch einmal die Stadt abgesucht, auch die Polizei hatte Ausschau gehalten. Keiner hatte Julia gesehen, keine Freundin hatte etwas von ihr gehört oder sie an diesem Abend getroffen. Das Telefon der Molls war noch ein altes Modell, das ausgehende Anrufe nicht anzeigte. Tanja würde bei der Telekom die Liste checken. Vielleicht hatte Julia den Anruf bei Susanne auch von ihrem Handy aus erledigt, das müsste sich feststellen lassen, wenn das Handy in der Nähe der Leiche gefunden würde. Auch die Anrufe vom Handy würden sie überprüfen müssen. Ob Julia verändert gewesen sei in der letzten Zeit? Ja, stiller sei sie gewesen, aber ihre Eltern hatten das ganz normal gefunden nach dem Tod ihrer heißgeliebten Oma. Außerdem hatte sie sich von ihrem Freund getrennt und in der Schule und durch die Aufführungen am Theater eine Menge zu tun. Da war es doch verständlich, dass sie ruhiger war und in sich gekehrter. Sie wollten dem Kind doch nicht mit ihren Fragen auf die Nerven gehen, das Vertrauensverhältnis nicht gefährden. Sie waren ja selbst noch niedergeschlagen nach dem plötzlichen Tod der Mutter.
«Frau Moll, wir müssten uns das Zimmer von Julia einmal genau anschauen. Können Sie uns den Raum zeigen?»
Richard Moll stand auf. «Ich mache das schon, bleib sitzen, Liebes.» Mühsam, so als habe er Schmerzen, ging Richard Moll den beiden Kommissaren voran die Treppe hoch, die zu Julias Zimmer führte. Er öffnete die Tür, blieb einen Augenblick stehen, warf aber keinen Blick ins Zimmer, sondern wandte sich ab und ging die Treppe wieder hinunter zu seiner Frau, die mit Susanne im Wohnzimmer auf ihn wartete.
* * *
Tanja und Arne blickten sich in Julias Zimmer um. Es wirkte so unschuldig, dass Tanja unwillkürlich seufzte. Der alte Dielenboden war sorgfältig abgeschliffen und lackiert worden. Ein hübsches Weichholzbett war mit Bettwäsche in einem blau-weißen Blütenmuster bezogen, der gemütliche Sessel, der schräg vor dem Fenster stand, hatte ebenfalls
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