Trauerweiden
unterschätzen. Sie beschloss, das Ganze im Hinterkopf zu behalten.
Sie waren nur ganz kurz zu Hause gewesen, um sich ein wenig auszuruhen. Und um fit zu sein für den Volksfestshowdown. Auf dem Plakat an der Litfasssäule vor dem Engelzelt stand: »Montag, ab 20 Uhr: Wir tragen das Volksfest zu Grabe.« Na dann. Lisa wunderte sich keine Sekunde über den pathetischen Unterton. Schon den ganzen Tag hatte sie das wehmütige Glitzern in den Augen der Crailsheimer bemerkt. Auf der offiziellen Volksfest-Homepage gab es nicht umsonst einen Countdown, der die Tage bis zum nächsten Volksfest herunterzählte. Das Fest schien gleichsam die Seele der Stadt zu sein, ein Ereignis, das alle Bürger miteinander verband. Das Ereignis, zu dem jeder kam, egal, wo er sich gerade befand, egal, wie es ihm ging. Alle kamen zum Volksfest, die Crailsheimer selbst und auch die ehemaligen Crailsheimer, die in ihrem Herzen doch nie aufhörten, echte Hohenloher zu sein. Und Hohenloher liebten eben ihr Volksfest. Umso wehmütiger stimmte sie dessen Ende. Schon am Dienstag würde der Zähler auf der Homepage auf »364« rücken. »Und jetzt ist also das letzte Mal Party«, stellte Lisa fest, als sie Hand in Hand unter den prüfenden Blicken des Eilooders durch das mit Tannenreisig behängte Tor schritten. »Na ja. Bis nächstes Jahr halt«, gab Heiko zu bedenken. »Aber heut dürfen wir nicht so viel trinken, morgen ist schließlich wieder Dienst«, mahnte Lisa. Heiko winkte ab. »Heut gehen wir das Ganze gemütlicher an. Wie wäre es mit ein, zwei Weißherbstschorle im Weinzelt?«
Drei Stunden später betrat Lisa alleine ihre Wohnung. Garfield taxierte sie mit vorwurfsvollen Blicken, die sie augenblicklich dazu veranlassten, eine Dose Thunfisch zu öffnen und den Inhalt in den Futternapf zu schütten. Sofort war der Kater versöhnt und fiel gierig schleckend über das Futter her. Lisa legte das Lebkuchenherz, das Heiko ihr in etwas weinseligem Zustand gekauft hatte, auf den Küchentisch. Sie lächelte, denn auf dem Herz stand in Schnörkelzuckerschrift das, was Heiko sich sonst so selten zu sagen traute: »Ich liebe Dich.«
Dienstag, 24. September
»So, seid ihr auch schon da«, begrüßte Uwe die beiden Kommissare, als sie sein Reich betraten. Er wippte lässig auf seinem Drehstuhl hin und her und zückte nach einer angemessenen Wartezeit die Akte. »Ich hab interessante Neuigkeiten, sehr interessante, wirklich«, sagte er und gab jedem einen gefüllten Kaffeebecher in die Hand. Er legte die Akte wieder weg, es sichtbar genießend, Spannung aufzubauen und so lange konzentriert flüssigen Süßstoff in seinen Kaffee zu mixen, bis Heiko auffordernd »Und?« machte.
»Erster Knaller: Die Frau Waldmüller war schwanger.« Er schien auf eine euphorische Reaktion seitens der Kollegen zu warten, die aber ausblieb.
»Ja, wäre doch die Krönung des jungen Glücks gewesen, oder?«, fand Lisa.
»Dieses Kind nicht. Denn es war nicht von Florian Ehrmann.«
»Aber woher weißt du … « Uwe winkte ab. »Datenbank. Ein paar ziemlich alte Drogengeschichten.«
»Und weißt du, von wem die DNA ist?«
»Keine Ahnung.« Uwe schlürfte seinen sicherlich untrinkbar süßen Kaffee. »Unbeschriebenes Blatt, der Mann. Und das zweite ist: Das Kind hatte Trisomie 21.«
»Was ist das … «, begann Heiko.
»Down-Syndrom«, erklärte Lisa.
Uwe nickte bestätigend. »Ja, ein Down-Syndrom-Kind. Ein Junge wäre es geworden. Aber über die drei Monate war sie bereits hinaus, sie wollte das Baby also wohl behalten.«
Lisa konnte nicht umhin, der toten Jessica für ihren Entschluss Respekt zu zollen. Das war eine mutige Entscheidung. Wobei sie persönlich davon überzeugt war, dass jedes Kind, behindert oder nicht, lebenswert war. Aber sie konnte die Notlage der Frauen, die vor einer solchen Entscheidung standen, nachvollziehen. Sie hatte mal eine Reportage darüber gesehen. Ein behindertes Kind veränderte das ganze Leben. Während andere Eltern mit den Leistungen ihrer Sprösslinge angaben, musste man sich beispielsweise bei Kindern mit Down-Syndrom mit kleinen Fortschritten zufrieden geben. Ein solches Kind brauchte Betreuung rund um die Uhr, lebenslang. Andererseits war in der Reportage darüber berichtet worden, dass solche Menschen meist sehr positive Charaktereigenschaften hatten. Sie waren liebevoll, freundlich, immer fröhlich. Charakterstark, durchaus. Trotzdem, dachte sie. Respekt.
»Und was sagen die Ulmer zum Todeszeitpunkt?«, wollte Heiko
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