Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
übermäßigen Stress ertragen musste (Giannakoulopoulos et al., 1994). Auch der Prozess und die Folgen von Migration und der Tatsache, als ethnische Minderheit in einem fremden Land leben zu müssen, können traumatisierend sein (Özkan, 2002).
Diese Studien sind nur eine kleine Auswahl. Und sie zeigen: Reale Lebenserfahrungen, die besonders stressreich sind, können Symptome verursachen, die Psychotherapeuten leicht als „Neurose“ oder gar als eine Persönlichkeitsstörung missverstehen können.
Lange haben Psychotherapeutinnen sich auf die Innenwelt der Patientinnen konzentriert, haben Konflikte und deren Widerspiegelungen in Beziehungen wichtiger genommen als reale Hintergrunderfahrungen. Allmählich kehrt sich diese Anfang des letzten Jahrhunderts begonnene Entwicklung wieder um, und es verbreitet sich die simple Wahrheit: Es sind die konkreten Lebensbedingungen, die psychische Symptome verursachen; es sind unbewältigte Lebenserfahrungen im Sinne einer Traumageschichte, die psychisch krank machen.
„Auch die Psychoanalyse begreift zunehmend, dass Störungen der Objektbeziehungen nicht die Ursache, sondern die Folge von Traumata sind“ (Ehlert-Balzer, 1996).
Wer nur die Störungsformen sieht und versucht, an Symptomen zu kurieren, unterliegt leicht der Gefahr, bei den Überlebenden solcher übermäßig stressreichen Erfahrungen nicht mehr deren Hintergrund zu erkennen und anzuerkennen, sondern sie individuell zu pathologisieren, sie als „genuin psychisch krank“ zu behandeln. Und damit Ursache und Wirkung zu vertauschen.
Ein misshandeltes Mädchen, das als Jugendliche anfängt, sich selbst zu verletzen, als „Borderlinerin“ zu pathologisieren, statt sie – wie es diagnostisch häufig richtig wäre – als komplex traumatisierte Frau mit akuten, aus der Not geborenen Gefühlsausbrüchen zu sehen und ihr eine adäquate traumaorientierte Behandlung anzubieten, halte ich inzwischen für einen Kunstfehler. Was nicht heißt, dass bestimmte emotionsregulierende Medikamente oder Behandlungsprogramme für die Regulation von heftigen Gefühlen, wie das DBT von Marsha Linehan (1998) – beides inzwischen häufig bei Borderline-Störungen angewandt –, nicht sinnvoll wären. Doch ohne ein Verständnis für den traumatischen Hintergrund der schweren Persönlichkeitsstörungen können wir den betroffenen Frauen (Borderline ist zu vier Fünftel eine Frauendiagnose) nicht angemessen helfen.
Meiner Überzeugung nach, die von zahlreichen Studien gestützt wird, sind auch viele chronische Depressionen, überdauernde Angstsymptome und Süchte ebenso wie psychosomatische Erkrankungen und Störungen der Impulskontrolle eine Folge von (häufig frühen und lang andauernden) Traumatisierungen.
Nichts gegen die Symptombehandlung, etwa mithilfe der Verhaltenstherapie. Doch wenn solche Störungen überdauern oder es zu einem Symptomwechsel kommt (etwa wenn eine Angststörung verschwindet, um als Essstörung wiederzukehren – oder umgekehrt), sollten wir daran denken, den möglichen traumatischen Hintergrund der Störung mit zu explorieren und wenn möglich zu behandeln.
Aber Achtung: Wenn wir nur „tief schürfen“ und die Traumatisierungserfahrungen bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Behandlung ausgiebig und im Detail erzählen lassen, destabilisieren wir häufig die Persönlichkeit mehr, als dass wir sie stützen. Häufig wird Traumatherapie von unerfahrenen Kolleginnen so missverstanden, als müssten sie schnurstracks auf das Trauma hin explorieren und dieses sofort durcharbeiten. Wrong.
Moderne Traumabehandlung wird immer vorsichtig vorwärts gehen. Die Devise lautet hier zunächst: „Erzählen Sie mir nur grobe Zusammenhänge, keine Einzelheiten, weil diese Sie sonst möglicherweise in die Wiedererlebensqualität führen werden, was wir zunächst vermeiden wollen“! Den Druck, „es rauslassen zu müssen“, können wir effektiver umlenken, statt durch ein „Erzählen Sie mal – und was fühlen Sie jetzt?“ der Klientin neue (letztlich alte, nämlich wiedererlebte) affektive Nöte zu bereiten. Band 2 wird sich ausführlich solcher Themen annehmen.
Seit den bahnbrechenden Arbeiten von Judith Herman in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts gilt eine Dreiteilung der Traumabehandlung als Methode der Wahl: Stabilisieren – Traumakonfrontation – Integration (mit Trauerarbeit und Wiederanknüpfen).
Bei komplex traumatisierten Menschen müssen wir noch ein Stadium mehr einfügen. Es stimmt: Erst
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