Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
empfinden sich von der Welt entfernt oder die Welt von Ihnen ...
Auch hier wird das dissoziative Prinzip deutlich: Gibt es äußeren oder inneren Stress, dann können manche Menschen sehr stark mit „Tunnelblick“, mit Ausblenden oder Wegdrücken von Elementen reagieren, die normalerweise integrativ wahrgenommen werden.
Auch bei und nach traumatisch em Stress kann es zu – teilweise dramatischen – Derealisierungs-Phänomenen kommen:
Marion ist mit ihrem neuen Freund zum ersten Mal allein. Kaum hat er die Tür zugeschlossen, fällt er über sie her, reißt ihr die Kleider vom Leib und will sie allem Anschein nach ohne Vorspiel einfach „nehmen“. Anfänglich denkt sie: „Er ist ja so leidenschaftlich“, küsst ihn und versucht ihn zu beschwichtigen: „He, mal langsam mit den jungen Pferden!“ Doch dann erkennt sie, dass er nichts Liebevolles, sondern den puren Hass in den Augen hat. Er beschimpft sie als „Hure“, schreit: „So willst du es doch, was?“, ohrfeigt sie und – plötzlich verändert sich ihre Wahrnehmung: Sie denkt: „Das habe ich mal in einem Film gesehen, das ist nicht jetzt.“
Manuel, der südländisch aussieht, wird vor einer Diskothek von mehreren Skinheads eingekreist. Sie beschimpfen ihn. Er bekommt große Angst, will sich aber nichts anmerken lassen, sieht sich um, schubst gezielt einen Angreifer beiseite und versucht in eine Seitenstraße zu fliehen, wird aber eingeholt und wieder von den Schlägern umringt. Plötzlich sieht er einen grinsenden hünenhaften Kerl mit einem Baseballschläger auf sich zukommen. Von nun an verändert sich seine Wahrnehmung: Es ist, als sei er unter Wasser und alles geschähe in Zeitlupe: Er hebt die Arme, der Baseballschläger kommt immer näher, und er denkt: „Das ist nur ein Traum, gleich wache ich auf, nur ein Traum ...“
An diesen Szenen erkennen Sie den Überlebensmechanismus: Wenn keine Bewältigungsstrategie mehr hilft, wenn man nicht fliehen und nicht gegen das Unheil ankämpfen kann – dann wird Dissoziation, hier: die Derealisierung, eine große Hilfe sein. Der Hippocampus ist vorübergehend abgeschaltet, damit das Selbst geschützt. Die Amygdala-Reaktion greift als Feuerwehr ein. Das psychische Erleben sagt: „Das ist alles nicht wahr.“ „Das geschieht nicht wirklich, nicht jetzt.“ „Das hat nichts mit mir zu tun.“ „Das hier geht mich eigentlich gar nichts an.“ Die Schutzfunktion ist offensichtlich. Viele Menschen erleben so etwas unter traumatischem Stress. Später wird ihr Gehirn versuchen, das Weggedrängte wieder herbeizuholen und die Erkenntnis zu ermöglichen: „Doch, das ist wahr. Das ist wirklich passiert, und zwar mir.“
Allerdings kann es sein, dass diese Erkenntnis lange nicht erfolgen kann, weil sich das Gehirn – meist aus gutem Grund – weigert, das Weggedrängte wieder „herbeizuassoziieren“. Und dann kann es zu chronischen Derealisierungen kommen, die dann im Rahmen der Posttraumatischen Belastungsstörung (siehe nächstes Kapitel) eine Rolle spielen.
Im Extremfall wird eine Betroffene dann eine von zwei Reaktionen kennen: Entweder etwas, das sie wahrnimmt, ist völlig bedeutungslos – oder es ist ein Auslöser für traumatische Erinnerungen. Manche Kollegen haben Versuchsreihen dazu gemacht. Sie spielten schwer traumatisierten Menschen (in einem Fall Vietnam-Veteranen mit einer klinisch bedeutsamen Posttraumatischen Belastungsstörung), die sich freiwillig für den Versuch gemeldet hatten, und einer Kontrollgruppe aus nicht schwer traumatisierten Menschen jeweils diverse Klänge vor. Gleichzeitig wurde die Hirnaktivität gemessen. Die Kontrollgruppe aus nicht traumatisierten Menschen verfügte offenbar über ein breites Spektrum an assoziativen Reaktionen auf die Klänge: verschiedene Großhirnregionen und die Sprachzentren waren aktiviert. Nicht so bei den Traumatisierten: Ihr Gehirn funktionierte nach einem Null-Eins-Prinzip. Entweder wurde der Klang als „bedeutungslos“ eingestuft, löste fast keine Reaktion aus und unterlag sofort der Löschung – oder all die Zentren im Gehirn wurden aktiviert, die für die Amygdala-Reaktion spezifisch sind, das Gehirn hatte dann also einen „Trauma-Alarm“ gegeben (Bremner et al., 1999; van der Kolk, 2000).
Beispiele für chronische Derealisierung
Norbert, ein ehemaliger Fremdenlegionär, findet das Leben „langweilig“. Er verträumt lange Zeiten und muss es dann ab und zu „krachen“ lassen. Da er leicht kränkbar ist, gerät er immer
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