Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
über die Mittelleitplanke und ging quer über die Gegenfahrbahn weiter. Auch auf dieser Seite schleuderten Autos oder kamen mit quietschenden Bremsen zu stehen, um ihn nicht zu überfahren. (Glücklicherweise hatten viele Fahrzeuge aufgrund des Unfalls ihre Geschwindigkeit bereits reduziert, sonst hätte er seinen „Ausflug“ wohl kaum überlebt.) In seiner „schlafwandlerischen“ Trance ging der Mann zügigen Schrittes weiter auf ein Feld, als hätte er einen bestimmten Ort am Horizont im Blick, den er ansteuerte. Ein Rettungswagen, der sich der Unfallstelle auf der Gegenfahrbahn genähert hatte, hielt an, ein Sanitäter sprang heraus und lief dem Mann aufs Feld hinterher, packte ihn an der Schulter, drehte ihn um und redete auf ihn ein. Und ich sah, wie der Mann langsam und heftig den Kopf schüttelte – als müsse er sich aus seinem „Schlafwandeln“ wecken, oder vielleicht verneinte er auch nur die Frage danach, ob er denn wisse, wo er hinlaufen wolle.
Dies ist ein Beispiel für eine Fugue-Episode, die peritraumatisch, also noch während der traumatischen Schockphase, stattfand.
Aus gegebenem Anlass daher ein freundlicher Hinweis an Juristen und Polizeibeamte: So manches „unerlaubte Entfernen von der Unfallstelle (bzw. vom Tatort)“, im Volksmund Unfallflucht genannt, ist weniger ein bewusster Versuch, sich vor der Verantwortung zu drücken, als eine Fugue-Episode. Diese stellt eine verspätete Flight-Reaktion dar. Verspätet deshalb, weil die Situation mit der höchsten traumatischen Stresseinwirkung bereits vorüber ist. „Es“ ist bereits passiert, ein Entkommen war nicht rechtzeitig möglich. Man kann die Fugue-Episode auch als die Ausführung einer unvollendeten Handlung betrachten – eben die Fluchtreaktion.
Wie an dem Beispiel erkennbar, ist eine Fugue-Episode ein sehr intensives dissoziatives Geschehen; denn es ist verbunden mit Amnesie (der Mann konnte sich hinterher nicht mehr an das erinnern, was er getan hatte, nachdem „es gekracht hatte“), mit Derealisierung (kein Mensch, der die Umgebungsbedingungen adäquat einschätzt, würde als Fußgänger eine sechsspurige Autobahn überqueren) und Depersonalisierung (normalerweise hätte der Mann mit seiner klaffenden Beinwunde gar nicht laufen können).
Dissoziative Identitätsstörug
Als letzte und intensivste Form der dissoziativen Abspaltung ist die dissoziative Identitätsstörung zu nennen. Früher wurde hier von „multipler Persönlichkeit“ gesprochen, und viele, die „viele sind“, nennen sich heute noch so. Sie sagen von sich: „Ich bin multipel“ oder „Wir sind multipel“ oder nennen sich „Multis“ (im Gegensatz zu solchen „Simpels“ wie mir oder anderen nichtgespaltenen Menschen).
Der dissoziativen Identitätsspaltung habe ich eine eigene Monografie gewidmet (Huber, 1995). Inzwischen wissen wir, dass es nicht heißen kann: gesund vs. multipel, sondern dass es eine Reihe von unterschiedlichen Abspaltungsmöglichkeiten gibt zwischen einer „simplen“, sprich: (eher) integrierten Gesamtpersönlichkeit und einer multiplen. Im Diagnostik-Kapitel werde ich auf solche chronisch dissoziativen Folgen für die Persönlichkeit noch näher eingehen. Hier soll eine Grafik diese Aufspaltung noch näher illustrieren und deutlich machen, dass wiederholte Gewalt eine Persönlichkeit nicht nur angreifen, sondern geradezu in Stücke reißen kann:
Bei einmaliger Traumatisierung entwickeln sich „Risse“ in der Persönlichkeit – und es entsteht eine „Fassade“ – hier als Kreis mit Rissen angedeutet: die Alltags-Persönlichkeit; sie wird versuchen, die „Risse“ im Innern unten zu halten, nicht weiter aufbrechen zu lassen.
Gibt es mehrere oder gar viele Traumatisierungen, dann kann eine Persönlichkeit buchstäblich in Teile zerbrechen, die sogar auf Dauer eine gewisse (Teil-)Autonomie erhalten können; Beispiele für Aufspaltungen sehen Sie in der Grafik; ich werde darauf zurückkommen.
Neben der Dissoziation kann es auch eine ganze Reihe anderer Traumafolgen geben, und diese sind abhängig von Art und Schwere der Traumatisierungen.
Kapitel 3:
Welche Traumatisierungen sind besonders schwer zu verarbeiten?
„Als weiterer Bestandteil dieser Störung [komplexe PTSD] werden Bewusstseinsveränderungen angesehen. Diese können bestehen aus einer Amnesie oder Hypermnesie [Überflutung mit Erinnerungen] für die traumatischen Ereignisse, zeitweilig dissoziativen Phasen oder Depersonalisation/Derealisation wie auch
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