Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
Vergesslichkeit“ hinausgehen, können aber auch als pathologische Alltagsamnesie vorkommen. Hierzu zwei Beispiele aus meiner eigenen Praxis (Namen geändert):
Else Lehmann wird zu mir geschickt, weil sie angeblich unter dem „Messie-Syndrom“ leide. Sie erzählt, dass sie sich einfach nicht auf Zusammenhänge konzentrieren könne, daher könne sie auch nicht Ordnung schaffen. Es gelinge ihr nicht, Wichtiges vom Unwichtigen zu trennen, und in manche Zimmer gehe sie schon nicht mehr rein – weil sich da die Unordnung zu sehr staple. Sehr wohl aber könne sie sauber machen und einkaufen und kochen – wenn sie alles in einer vorher (möglichst schriftlich) festgelegten Reihenfolge tue. Bei näherer Exploration stellt sich heraus, dass Frau Lehmann kein „Messie“ im Sinne einer zwanghaften Sammelwut ist, sondern dass sie aufgrund ganz erheblicher, nämlich pathologischer Alltagsdissoziationen völlig mit dem Aufräumen überfordert ist. Als ich die alltäglichen Vergesslichkeiten genauer mit ihr anschaue, fällt ihr als Beispiel ein: „Ich bemerke erst, dass ich Wasser aufgesetzt habe, wenn der Kessel pfeift.“ Offenbar ist alles aus ihrem Bewusstsein „verschwunden“, was aus ihrem Blickfeld verschwindet. Gründliche neurologische und psychiatrische Untersuchungen und ein Drogen-Screening bringen keine Befunde. Sehr wohl aber die Exploration auf traumatische Erfahrungen hin: Frau Lehmann ist als kleines Kind sehr erheblichen körperlichen, seelischen und sexuellen Misshandlungen ausgesetzt gewesen, wie sie vorsichtig zu erzählen beginnt, und schon damals hat sie gelernt, sich von einem Augenblick zum nächsten „wegzubeamen“ ...
Lara Heller kommt mit dem Verdacht, sie könne vielleicht eine multiple Persönlichkeit sein. Als ich sie nach ihrem derzeitigen Alltag frage, sagt sie: „Ich funktioniere. Eigentlich denke ich gar nicht nach, sondern es geschieht einfach, und wenn ich Glück habe, das Richtige.“ Befragt nach ihrer Lebensgeschichte, meint sie ratlos und voller Schmerz: „Ich ziehe mein Leben wie einen dunklen Teppich hinter mir her. Ich fühle mich, als wäre ich nur die Oberfläche. Ein Ereignis geschieht, es fällt in mich hinein, durch mich hindurch wird reagiert – aber mir selbst erscheint mein Leben wie ein Rätsel. Ich lächle, kann die Fassade wahren, das ist alles.“ Auch bei Frau Heller gibt es keinen Hinweis auf ein hirnorganisches Problem, auch sie nimmt keine Drogen und außer gelegentlich Aspirin gegen die Kopfschmerzen keine Medikamente. Doch sie weiß, wie sie sagt, „aus meinen Tagebüchern von damals und weil es mir ab und zu wieder einfällt“, dass sie von ihrem Vater als Kind und Jugendliche an zahlende Männer zur sexuellen Benutzung verkauft wurde. Der Verdacht der dissoziativen Identität wird sich in den folgenden Therapiesitzungen bestätigen, da sie fast jedes Mal völlig verändert in Mimik, Gestik und Verhalten und mit einer Amnesie für die letzte Stunde wiederkommt: Der Anteil, der als „Frau Heller“ zu mir in Behandlung gekommen war, so erklärt zum Beispiel eine innere Helferin, die jünger ist als die Alltagsperson, mich in mehreren Stunden über das „Innensystem“ aufklärt und mit einem anderen Vornamen angesprochen werden möchte – „Frau Heller, das ist bloß unsere Fassade“, die alltagstaugliche Oberfläche oder „Gastgeberin“ einer multidimensional aufgespaltenen Persönlichkeit ...
Zu der Thematik der dissoziativen Identitätsspaltung (multiple Persönlichkeit) später mehr, vor allem in Kapitel 5.
Derealisierung
Ein weiteres dissoziatives Phänomen ist die Derealisierung. Auch die gibt es als alltäglich e Erscheinung: Je mehr Stress Sie haben und je besser Sie überhaupt dissoziieren können, desto öfter werden Sie Phänomene wie die folgenden bemerken:
Ab und zu hören Sie einem Menschen zu, der auf Sie einredet, und es kommt auch der Klang der Worte zu Ihnen, aber Ihre Ohren scheinen auf „Durchzug“ gestellt ...
Wenn Sie in einer stressreichen Zeit oder nach einem äußerst gefühlsintensiven Traum morgens aufwachen, kann es sein, dass Sie den ganzen Tag wie „weggetreten“ sind, als würden Sie mit offenen Augen (weiter) träumen ...
In solchen Zeiten kann es sein, dass Sie hin und wieder Doppelbilder oder Schleier vor den Augen sehen; wenn Sie dann zum Augenarzt gehen, findet er keine organische Ursache ...
Und manchmal scheint dann zwischen Ihnen und der Umwelt eine unsichtbare Glaswand zu bestehen – Sie
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