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Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)

Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)

Titel: Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Huber
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wieder in Schlägereien. Dann wieder können Wochen vergehen, in denen er das Gefühl hat, als wäre die Welt da draußen ganz weit weg, wie hinter einer Nebelwand ... Da er in solchen Phasen auch zu Drogen greift, muss die Drogenwirkung von der posttraumatischen Derealisierung getrennt werden. Das lässt sich auch feststellen, denn nicht in jeder Derealisierungs-Phase nimmt er Drogen; und offenbar sind diese sekundär – das heißt sie sollen gerade von der Derealisierung wegführen, statt sie auszulösen ...
Clara ist mit ihren 17 Jahren schon mehrfach in der Psychiatrie gewesen. Sie verletzt sich immer wieder selbst. Vater und Onkel haben sie sexuell misshandelt, das Jugendamt hat sie daraufhin mit zehn aus der Familie genommen; doch auch in einer der folgenden Pflegefamilien wurde sie zur Herstellung von Sexfotos und -videos missbraucht. Sie kann stundenlang dasitzen und die Wand anstarren, bekommt dann kaum mit, was um sie herum geschieht. Um sich aus den intensiven Derealisierungen herauszuholen, schneidet sie sich die Arme auf. „Wenn der Schmerz endlich kommt, wache ich auf“, sagt sie.
    An diesen Beispielen wird deutlich, dass das, was einst ein Schutz war – Derealisierung –, zu einem eigenen Problem werden kann, das weitere nach sich zieht.
    Neben der Derealisierung als dissoziatives Phänomen, bei dem man die Umgebung oder Teile davon nicht adäquat wahrnehmen kann, gibt es die Depersonalisierung. Sie bedeutet: das Selbst oder Teile davon nicht adäquat wahrnehmen (siehe Lukas, 2003). Nehmen wir dazu die beiden Beispiele der vergewaltigten Frau und des von Skinheads misshandelten Mannes, um auch dieses Phänomen zu erläutern:
Als ihr „Freund“ sie ohrfeigt, spürt Marion diesen Schlag: Ihr Kopf wird herumgerissen, ihre Wange brennt, ihr Nacken schmerzt, Tränen schießen ihr in die Augen. Doch als er seinen Gürtel aus der Hose zieht, um sie damit zu schlagen, und als er sie später vergewaltigt, hilft ihre gute Dissoziationsfähigkeit ihr sehr: Plötzlich spürt sie keinen Schmerz mehr, ihr Körper fühlt sich erst wie taub an, dann bekommt sie das Gefühl, als öffne sich ihr Kopf und ein Teil von ihr schwebe nach hinten und oben aus dem Körper heraus ...
Manuel – der als politischer Aktivist in seinem südamerikanischen Heimatland gefoltert worden ist – weiß aus Erfahrung, wie er reagieren wird, sobald er in einer kritischen Situation denkt: „Das ist nur ein Traum.“ Er versucht daraufhin mit einem Teil seines Selbst, sich in die Wirklichkeit zurückzukämpfen, um sich wehren zu können. Doch seine Dissoziationserfahrung wird ihn auch gegen seinen Willen wieder weit wegtreiben, als vor-bewusste Abwehrstrategie: Es wird ihm zunächst nicht schwarz vor Augen von den Schlägen, denen Tritte an den Kopf und in die Rippen und Nieren folgen. Bevor er ohnmächtig wird, erlebt er sich wie abgetrennt von seinem Körper. Wie damals während der Folter spürt er nur ein Klatschen und Drücken an seinem Körper, sonst nichts. Er hört, wie weit entfernt seine Peiniger schreien – und ein Stöhnen, von dem er nicht weiß, dass es aus seinem eigenen Mund kommt ...
    Fugue
    Ein weiteres dissoziatives Phänomen ist die Fugue. Schon dem Begriff merkt man an, um was es sich hier handelt. Wie bei der musikalischen Fuge, bei der ein Motiv vor dem anderen „flieht“, handelt es sich beim Wortstamm um einen Begriff aus dem Lateinischen: Fugare, also „fliehen“. Von der klinischen Definition her bedeutet Fugue: Sich körperlich von einem Ort an einen anderen begeben und sich dort wiederfinden, verbunden mit Amnesie.
    Als Beispiel möchte ich die Geschichte des Mannes mit der klaffenden Wunde am Bein weitererzählen, den ich als Zeugin zunächst dabei beobachten konnte, wie er nach dem Unfall, offenbar ohne Schmerzen zu empfinden (also in einem depersonalisierten Zustand), das Warndreieck aus dem Kofferraum holte und es in einigem Abstand hinter sein demoliertes Fahrzeug stellte.
Er begann nämlich plötzlich, sich noch offensichtlicher merkwürdig – und keineswegs mehr so „abgeklärt“ und „vernünftig“ wie vorher – zu verhalten, nämlich quer über die Autobahn zu laufen. Viele Autofahrer, die angehalten und ausgestiegen waren, um zu helfen, riefen ihn an und versuchten, ihn davon abzuhalten, doch er ging zielstrebig weiter, mitten zwischen den Autos hindurch, die hupend und mit kreischenden Bremsen zum Stehen kamen oder ihm ausweichen mussten. Er schwang seine Beine eines nach dem anderen

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