Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
Boden unter den Füßen weggebrochen ist und man ins Bodenlose stürzte. Man will sich nicht anfassen lassen, verkriecht sich, will nicht reden, nicht mehr mit dem Entsetzlichen konfrontiert werden. Das ist die eine Seite. Diese Reaktion wird Konstriktion genannt. Im engeren Sinne gehören auch alle pathologischen und chronischen dissoziativen Reaktionen dazu (siehe Kapitel 2).
Auf der anderen Seite erlebt man in Albträumen, während schlafloser Nachtstunden und intensiver Tagtraumsequenzen einzelne Elemente aus dem traumatischen Geschehen nach: Immer wieder hört man den Schuss knallen oder spürt, wie die Arme nach hinten gerissen werden, oder riecht den alkoholgetränkten Atem des Täters oder sieht die Schreckensbilder als Horrorfilm wie in einem Zeitraffer vor- und zurückgespult ... Diese Reaktionen werden Intrusionen genannt.
Als drittes Element der posttraumatischen Reaktion gibt es Symptome von Übererregung, denn der ganze Organismus „schwingt“ noch nach und gerät immer wieder in die traumanahe Physiologie:
Man zittert, fängt immer wieder „grundlos“ an zu schluchzen, geht schon bei kleinsten Anlässen „an die Decke“, bekommt Streit mit allen möglichen Menschen, fährt immer wieder aus den (Alb-)Träumen hoch, kann sich tagsüber nicht konzentrieren ...
Sind diese drei Elemente der posttraumatischen Reaktion – Konstriktion, Intrusion und Übererregung – intensiv, breiten sie sich eher aus, statt weniger zu werden, und dauern sie länger als vier Wochen, dann kann die Diagnose der PTSD, also der Posttraumatischen Belastungsstörung, gestellt werden.
Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD)
Wiedererleben (von Teilen) der belastenden Erinnerung in Form von Gedanken, Albträumen, Flashbacks (= plötzliches intensives Wahrnehmen von Traumabestandteilen mit Wiedererlebensqualität), Pseudohalluzinationen (eine dunkle Gestalt aus den Augenwinkeln wahrnehmen, die bedrohlich auf einen zukommt etc.);
bei Kindern auch: häufiges Nachspielen der belastenden Szenen, ohne dass Erleichterung eintritt; viele Albträume mit stark ängstigenden Inhalten; das Kind handelt wieder wie im Trauma;
starke gefühlsmäßige und körperliche Belastungssymptome bei allem, was an das Trauma erinnert;
anhaltende Vermeidung von Reizen, die an das Trauma erinnern;
Unfähigkeit, wichtige Aspekte des Traumas zu erinnern (Amnesie);
Gefühl der Losgelöstheit von der Umgebung (Derealisierung) bzw. vom Körper (Depersonalisierung) bis hin zu dissoziativen Identitätsstörungen;
Gefühl der Entfremdung von anderen; Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden; Gefühl, eine eingeschränkte Zukunft zu haben; vermindertes Interesse am sozialen Leben; Verlust von Spiritualität;
erhöhte Erregung: Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz (übermäßige Aufmerksamkeit), Schreckreaktionen.
(Siehe u.a.: American Psychiatric Association: DSM-IV, 1994; Dilling et al: ICD-10, 1997)
Etwa ein Viertel der Posttraumatischen Belastungsstörungen sind „late onset PTSD“, das bedeutet: Sie haben früh ihren Anfang, brechen aber erst später, nach einem erneuten extremen Stress, aus (siehe Flatten et al., 2001).
Ein Mensch kann lange Zeit nach dem Trauma erst einmal gut funktionieren, so als hätte er das Trauma gut integriert, doch dann – etwa an einem Jahrestag des Traumas oder durch eine erneute Traumatisierung – bricht erst die PTSD aus.
Beispiel: Kosovokrieg
Ein Beispiel aus einem meiner Einsätze nach dem Kosovokrieg, an dem Sie so gut wie alle Elemente der Posttraumatischen Belastungsstörung erkennen können.
Am 4. Mai 2000 – der Krieg war ein Jahr vorbei – fuhr ich im Rahmen der praxisorientierten Ausbildung, die ich im Kosovo begleitete, mit einer Sozialberaterin zu einer ihrer Klientinnen nach Hause. Am Abend zuvor las ich in der Akte über diese Klientin, die ich „Zene“ nennen möchte, und die am Stadtrand einer besonders schlimm im Kosovokrieg betroffenen Stadt in einem Hinterhaus wohnt:
„Zene ist 55 Jahre alt. Die Betreuung findet seit 20.8.1999 einmal wöchentlich bis einmal alle zehn Tage statt. Während des Krieges wurden ihr Mann, ihr Sohn und ihr Bruder ermordet; ihr Haus wurde bis auf die Grundmauern abgebrannt.“
Eine für die Gräuel, welche die serbische Soldateska im Kosovo anrichteten, charakteristische Szene aus Zenes Traumageschichte, wortwörtlich von ihr erzählt und von der Betreuerin aufgeschrieben:
„Als die Nato-Bombardierungen anfingen,
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