Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
kamen aus H. mein Schwager mit Kindern, mein Bruder mit seiner Familie und die Nachbarn zu uns, sodass wir in unseren Häusern um die 50 Personen waren. Bis zum 1.4.99 konnten wir uns retten. Nachts hielten wir abwechselnd Wache. Doch am 1.4.99 nach Mitternacht umzingelte uns die [serbische] Polizei, kam rein, trennte die Frauen und Kinder von den Männern und Jungs und zwangen Letztere in ein Zimmer im zweiten Stock des Vorderhauses. Uns Mädchen und Frauen warfen sie vor die Tür. Sie wollten auch meinen zweijährigen Enkel, den meine 23-jährige Tochter in den Armen hielt, zu den Männern und Jungs tun. Ich weiß noch, dass ich mich körperlich mit dem Polizisten angelegt und ihn angeschrieen habe, das sei ein Mädchen und kein Junge – denn mein Enkel hat lange Haare. Ich wusste nicht, ob ich meine Tochter oder meinen Enkel beschützen sollte! Was geschah, nachdem ich die beiden aus den Händen des Polizisten zog, weiß ich nicht mehr ... Die ganze Nacht verbrachten wir zusammen mit vielen anderen Menschen am Ufer des Llukac. Nachdem sich meine Tochter aus den Händen der Polizei befreit hat, ist sie vor lauter Angst zusammen mit meinem Enkel in eine Mülltonne gekrochen. Am nächsten Tag habe ich mich auf den Heimweg gemacht. Unterwegs kam mir meine Tochter schreiend entgegen: „Sie haben sie alle umgebracht!“ Wir haben uns der Menschenmasse angeschlossen und sind im Treck nach Albanien gezogen.“
Solche entsetzlichen Schrecken sind es, die sich hinter dem Stichwort von „ethnischen Säuberungen“ verbergen.
Vielleicht haben Sie schon bemerkt, dass Zenes Bericht zwei Lücken hat: Sie wusste zum Zeitpunkt dieser Schilderung nicht mehr, was geschah, nachdem sie versuchte, ihren Enkel zu retten – was ihr im Übrigen gelungen ist, ich habe den hübschen Kleinen, dessen lange Haare ihm das Leben gerettet haben, auf seinem Dreirad im Bereich des abgebrannten Vorderhauses herumfahren sehen. Die zweite Lücke tut sich an der Stelle auf, als sie sagt: „Nachdem sich meine Tochter aus den Händen der Polizei befreit hat.“ Inzwischen erinnern sich viele Frauen an das, was da auch noch war: Die Folter bzw. Vergewaltigung der Frauen und Mädchen durch die serbische Soldateska.
Im weiteren Bericht beschreibt die Beraterin die aktuellen traumabedingten Symptome von Zene:
„Die Klientin versucht mit Hyperaktivität, ihren seelischen Schmerz zu überwinden. Sie lässt es auf diese Weise nicht zu, ihren Gefühlen, die zu ihren tragischen Erlebnissen gehören, freien Lauf zu lassen. Sie kämpft gegen sich selbst an und dagegen, was sie wirklich fühlt und erlebt. Bei ihr hat es länger gedauert als bei anderen, bis sie ihre Gefühle spüren und ausdrücken konnte. Oft habe ich mich gefragt, ob diese Frau überhaupt meine Hilfe brauchen kann oder ob ich umsonst hingehe.“
Die Sozialberaterin wunderte sich also, dass Zene trotz der enormen Gewalt, die sie ertragen musste, erst einmal „nur funktionierte“ und nichts von Aufarbeitung wissen wollte.
Doch – sollen wir sagen: leider oder glücklicherweise? – dann kam der Jahrestag des Traumas. Die Beraterin notierte:
„Es sieht so aus, als hätte der Jahrestag des Krieges die schmerzhaften Erinnerungen wachgerufen und die Reaktionen ausgelöst, die sie bis jetzt in ihrem Inneren verborgen hatte. Seither freut sich die Klientin sehr, wenn ich komme. Sie hat es jetzt viel nötiger zu sprechen. Nun berichtet sie von Schlafstörungen und anderen Symptomen. Sie erzählt weiter, dass sie traurig und phasenweise apathisch ist, keinen Willen hat, etwas zu erledigen, nicht mehr zu Verwandten gehen mag.“
So weit der Bericht der Beraterin, und nun zu dem, was ich mit eigenen Augen sah:
Bei unserer Ankunft müssen wir durch das bis auf die Grundmauern verbrannte Vorderhaus zum Hinterhaus gehen. Wie schrecklich, denke ich, diese Menschen haben das Trauma tagtäglich vor Augen.
Als wir uns dem Hinterhaus nähern, sehen wir, dass mehrere erwachsene Frauen dabei sind, die Aufgangstreppe zu putzen. Scheu und sehr ernst begrüßen sie uns, rufen Zene, die uns entgegeneilt, strahlend, als sie ihre Betreuerin sieht, herzlich uns Gästen gegenüber, und uns ins Wohnzimmer bittet, wo auch ihre Mutter, mit dem typischen „Altfrauen-Kopftuch“ bedeckt, hereinkommt und sich mit scheuem Lächeln dazusetzt.
Zene ist mit ihren 55 Jahren eine ausgesprochene Schönheit: ungewöhnlich groß, stark und schlank, große dunkle Augen in einem lebendigen und klugen Gesicht, das von
Weitere Kostenlose Bücher