Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
auch im zweiten Fall nicht zu unterschätzen. Ich habe eine Frau kennengelernt, die lebenslange Folgen davontrug, auch wenn die Sequenz des Übergriffs nur kurz war und von ihr selbst zunächst als „harmlos“ bezeichnet worden war:
Als junges Mädchen sollte sie öfter die Post für das Geschäft ihrer Eltern aus einem Postfach abholen. Das Postfach war sehr weit oben angebracht, sodass sie sich auf einen Hocker stellen und sehr hoch strecken musste. Eines Tages war ein fremder Mann in ihrer Nähe, und während sie sich reckte, griff er ihr blitzschnell zwischen die Beine. Folgen waren unter anderem: Sie versuchte, keine „expansiven“ Bewegungen mehr zu machen (Konstriktion), zog keine Röcke mehr an (Konstriktion), wollte nicht „zwischen den Beinen berührt werden“ (Konstriktion), hatte Angst vor Männern (Konstriktion), bekam immer wieder Albträume, in denen ihr Männer zwischen die Beine griffen (Intrusion), schrie manchmal vor Schreck auf, wenn beim Schwimmengehen oder Umkleiden unvermutet ein Stück Stoff oder ein Insekt oder ein Stück Haut eines anderen Menschen im Bereich ihres Unterleibs oder ihrer Oberschenkel eine leichte Berührung ausübten (Übererregung). Diese Reaktionen dauerten über zehn Jahre lang an!
Wie Sie sehen, ist dieses „harmlose“ Beispiel für die Betroffene keineswegs harmlos gewesen. Daher der Hinweis: Auch kurze Episoden von traumatischem Stress können langfristige Wirkungen haben. Dennoch gilt natürlich im Allgemeinen: Was länger quält, macht länger andauernde Schrecken.
2. Auch die häufige Wiederholung ist ein großes Problem für die Integration von Traumata. Am schlimmsten ist es, wenn die Person noch immer von Tätern misshandelt wird. Denn dann wird sie ihre Traumatisierungen, die mit erlittener zwischenmenschlicher Gewalt zu tun haben, höchstwahrscheinlich gar nicht integrieren können. Erst muss die Traumatisierung definitiv aufgehört haben, danach erst ist eine Aufarbeitung möglich. Typisch für diese 2. Kategorie ist auch die langjährige Gewalt in der Kindheit. Hierzu ein paar Zahlen, um zu zeigen, dass dies keineswegs selten geschieht:
Etwa 10,5 Prozent aller Kinder werden kontinuierlich körperlich misshandelt; rund 1,5 Prozent aller Jungen und vier Prozent aller Mädchen vor dem 14. Lebensjahr werden mehrfacher sexueller Gewalt ausgesetzt – so eine repräsentative Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts in Niedersachsen (Wetzels, 1997).
Heute wissen wir: Misshandlungen in der Kindheit geschehen so gut wie immer nicht nur einmal, sodass wir Kindheitsmisshandlung und chronisches Trauma gleichsetzen können. Mehr dazu im Kapitel über Bindungsstörungen.
3. Wer stärker körperlich verletzt wurde bei einem Trauma bzw. während der extrem stressreichen Erfahrung besonders viele Schmerzen empfand, hat größere Schwierigkeiten, es später zu integrieren (Frommberger et al., 1998a; Mulder et al., 1998; Toomey et al., 1993; Walling et al., 1994).
4. Wer sich keinen Reim auf das Erlebnis machen kann, steckt hinterher in größeren Schwierigkeiten als jemand, der dem Ereignis möglichst rasch danach eine Bedeutung im Leben geben kann. Dies ist ein wichtiges Ergebnis der Forschungsarbeiten zum Thema „Sense of Coherence“ (Frommberger et al., 1999).
5. Zwischenmenschliche Gewalt ist schwerer zu verkraften als Naturkatastrophen, Unfälle und als anonym erlebte Kriegsereignisse. So schrecklich es ist, ein Erdbeben, ein Zugunglück oder die Bombardierung der heimatlichen Stadt miterleben zu müssen – im Durchschnitt verkraften Menschen solche Ereignisse besser, als wenn sie von einem Menschen persönlich attackiert werden. Allerdings gilt es bei Helfern auch bei Unfällen und Katastrophen darauf zu achten, ob es weitere Belastungsfaktoren (etwa lange Dauer oder häufige Wiederholung) gibt, denn die erschweren ja wieder die Integration. Ein Grund für die bessere Integration von Naturkatastrophen und Kriegen, Haft und Folter ist die Tatsache, dass die Menschen miteinander darüber sprechen, was die Integrationsfähigkeit des Gehirns anregt (van der Hart & Brom, 2000).
Eine Ausnahme stellt die sexuelle Gewalt während kriegerischer Auseinandersetzungen dar – dies nicht nur, weil es zwischenmenschliche Gewalt ist, sondern auch, weil in der Regel nicht darüber gesprochen wird. Auch das habe ich im Kosovo häufig erlebt: Über alle Untaten der serbischen Peiniger wurde freimütig gesprochen – nicht aber über die sexuelle
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