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Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)

Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)

Titel: Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Huber
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Armut, instabile Lebensbedingungen mit häufigen Krisen und dramatischen Ereignissen, Belastungen finanzieller oder gesundheitlicher Art – und das Geschlecht sind zusätzliche Belastungsfaktoren. Warum das Geschlecht? So genau wissen wir es noch nicht. Aber es scheint so zu sein, dass Jungen und Männer zwar insgesamt häufiger von Gewalt bedroht und betroffen werden – insbesondere körperliche und seelische Gewalt –, aber Mädchen und Frauen häufiger langfristige Folgen im Sinne einer PTSD erleiden. Möglicherweise spielt hier die sexuelle Gewalt, die ja ein besonderer Angriff auf die Integrität einer Persönlichkeit darstellt, die entscheidende Rolle. Jedenfalls werden 80 bis 90 Prozent aller sexualisierten Gewaltangriffe auf Mädchen und Frauen verübt. Dies ist der einzige eindeutige Unterschied zu Lasten des weiblichen Geschlechts. Denn von (versuchtem) Totschlag, (versuchtem) Mord, Raub, schwerer Körperverletzung etc. werden Jungen und Männer weit häufiger betroffen. Übrigens sind die Täter in diesen Bereichen ebenfalls zu mehr als 90 Prozent Männer! In Band 2 werde ich in einem besonderen Kapitel auf die sich daraus ergebende Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Therapieansätze eingehen.
    Dass posttraumatische Diagnosen überwiegend an Mädchen und Frauen vergeben werden, mag auch daran liegen, dass Mädchen eher „implodieren“ und Jungen eher „explodieren“; dass das weibliche Geschlecht eher psychotherapeutische Hilfe aufsucht und annimmt, und Männer eher dissozial werden und im Extremfall eher ins Gefängnis als in die Psychotherapie kommen. Jungen und Männer brauchen daher offensichtlich andere Angebote als Psychotherapien, um rechtzeitig aufgefangen zu werden – mögen sich bitte meine männlichen Kollegen darüber intensivere Gedanken machen, denn ich glaube, dass Jungen und Männer gute männliche Vorbilder brauchen!
    Eine weitere Bemerkung zum Faktor „dysfunktionale Familienstrukturen“: Heute ist aus der Familienforschung bekannt, dass gut funktionierende Familien klare Regeln, ein demokratischer Erziehungsstil und sichere Bindung zwischen Erwachsenen und Kindern kennzeichnen. In dysfunktionalen Familien jedoch herrschen ganz andere Regeln. Ein Beispiel:
    Familie Baumann (Name geändert). Der Vater ist von Beruf Ingenieur und seit einem Jahr arbeitslos. Vor Kurzem hat er begonnen, mehr zu trinken. Er stammt aus einer Alkoholikerfamilie. Die Mutter ist kaufmännische Angestellte, hat „der Kinder wegen“ ihren Beruf aufgegeben. Sie ist ein Pflegekind gewesen, als sie mit 15 in der Disko ihrem späteren Mann begegnete. Die Kinder Lars und Hanna sind sieben und fünf Jahre alt.
    Familie Baumann ist nach außen hin völlig unauffällig. Alle Familienmitglieder wissen sich in der Außenwelt zu benehmen. Die Eltern kennen die zehn Gebote und die wichtigsten Regeln der Strafprozessordnung und halten sich daran. Anders sieht es aus, sobald die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss fällt.
    Wenn Hanna vom Kindergarten nach Hause kommt, beginnt sie schon im Treppenhaus zu dissoziieren. Es wird ihr ein wenig schwummerig, sie bekommt einen glasigen Blick, verlangsamt ihre Schritte und ist schon längst nicht mehr die lustige Hanna aus der Spielgruppe, wenn sie die Klinke der Wohnungstür berührt. Sondern sie ist eine Fee, ein lautloses Wesen, das nur aus Augen und Ohren besteht. Ihr kleiner Körper ist fest angespannt, wenn von innen die Tür geöffnet wird. Sie bemerkt sofort: Wie ist Papa heute drauf? Hat er nur ein, zwei Bier getrunken? Ist er sturzbesoffen? Oder gar – o Schreck – nüchtern? Sie tut alles, um ihm zu gefallen: ist leise, wenn er einen Kater hat; lieb und lustig, wenn er lustig ist; und wenn sich Gewitterwolken zusammenbrauen, versucht sie, noch unsichtbarer zu werden. Die ersten Schritte in die Wohnung: Wie klappert Mama in der Küche mit dem Geschirr? Nur ein bisschen? Dann kann Hanna sich leicht entspannen. Oder ganz laut? Dann verstärkt sich Hannas Körperspannung noch mehr. Und Lars? Hat er diesen heimtückischen Blick? Dann versucht sie, ihn gnädig zu stimmen. Heute hat sie ihm ihr Pausenbrot mitgebracht und ein kleines Auto, das sie heimlich in der Spielecke hat mitgehen lassen ...
    Hier einige der Regeln, die in dieser Familie – wie in vielen dysfunktionalen Familien – herrschen:
     
Kinder sind dazu da, die Bedürfnisse der Erwachsenen zu erfüllen.
Bei Baumanns heißt das: „Hol mir mal ein Bier!“ oder „Komm, lass uns juckeln!“ Welche

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