Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)

Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)

Titel: Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Huber
Vom Netzwerk:
realisiert, dass es meine Hände waren. Diesmal war es wie eine Klarglasscheibe: Mit schrecklicher Deutlichkeit konnte ich sehen, dass jemand – ich? – offensichtlich dabei war, die Frau zu töten. Ich habe geschrieen, ich wollte nach vorn kommen, durch die Scheibe brechen, das Geschehen beenden – denn auch dieses Mal mochte ich die Frau sehr – , aber ich kam nicht durch. Ich konnte nichts dagegen machen. Da wusste ich: Man muss mich aus dem Verkehr ziehen. Für immer.“

Kapitel 4:
    Wie wirken sich frühe Gewalterfahrungen auf die Bindungsfähigkeit aus?
    „Wenn Kinder klein sind, gib ihnen Wurzeln. Wenn sie groß sind, gib ihnen Flügel.“
    – Chinesisches Sprichwort
    Schöner kann man die Entwicklung von der Bindung zur Autonomie nicht beschreiben, abgesehen davon, dass wir heute denken: Kinder brauchen von Anfang an sowohl Wurzeln als auch Flügel; ihre Autonomieentwicklung kann und sollte ebenso früh beginnen wie eine gute und sichere Bindung an ihre Eltern und ihr Zuhause (Tschöpe-Scheffler, 1999).
    Oder ist dies nur eine Entwicklung unseres schnelllebigen Jahrhunderts, das Kinder so schnell wie möglich selbstständig machen möchte, damit sie den Selbstentfaltungsbedürfnissen ihrer ewig „jungen“ Eltern nicht mehr im Wege stehen?
    Wie dem auch sei: Was ist, wenn die Wurzeln der Kinder früh gekappt werden? Wenn sie vorschnell „flügge“ werden müssen? Was ist, wenn ein Kind von denselben Menschen verraten, verlassen, misshandelt wird, die es versorgen, lieben und seiner Seele die sichere Verwurzelung bieten sollten? Heute können wir recht genau sagen, was dann geschieht. Dann nimmt das Kind auf allen Ebenen Schaden. Von der Hirnentwicklung bis zu seiner Beziehungsgestaltung, von der Leistungsfähigkeit bis zu Identität – alle Bereiche der kindlichen Entwicklung können, zum Teil sehr erheblich, beeinträchtigt werden.
    Wie kann es sein, dass die Beeinträchtigung durch frühe Traumata so gravierend ist? Es hat etwas damit zu tun, dass die menschliche Spezies – anders als viele Pflanzenfresser, etwa Hasen – nicht genetisch darauf vorbereitet ist, schon kurz nach der Geburt so selbstständig zu reagieren, dass das Kleine sich bei Gefahr aus eigenem Antrieb in Sicherheit bringen kann. Stattdessen ist ein Menschenkind von Geburt an genetisch darauf programmiert, sich mit seinen Bezugspersonen zu verbinden, die zu „Bindungsobjekten“ in seinem weiteren Leben werden. Wenn das Kind Angst hat, wird es sich zunächst an diese Bezugspersonen wenden, um von ihnen getröstet, in Sicherheit gebracht und versorgt zu werden. Bis etwa zum vierzehnten Lebensjahr bleiben Kinder „Nesthocker“, erst danach sind sie von der Anlage unserer Spezies her in der Lage, zur Not auf sich allein gestellt für sich sorgen zu können. Verhaltensforscher haben uns Menschen deshalb auch gelegentlich als „soziale Frühgeburt“ bezeichnet.
    Kinder verfügen daher über ein angeborenes sogenanntes Bindungssystem. Und erwachsene Menschen verfügen über ein ebenfalls angeborenes korrespondierendes Verhalten, wenn sie mit einem Baby umgehen. Das Gaga, das automatisch aus Ihrem Mund quillt, sobald Sie eines Babys angesichtig werden, gehört dazu. Wundern Sie sich nicht, die Natur hat Sie dazu bestimmt, solche bizarren Lautäußerungen wie „Naha, du süßes Kleines, dudu“ oder so ähnlich von sich zu geben. Man nennt es „bonding“. Es umfasst solche Verhaltensweisen wie das Präsentieren des eigenen Gesichts in 20 bis 30 cm Abstand, sodass das Baby es auch gut sehen kann; es auf den Arm nehmen und schaukeln, streicheln und küssen, leises Singen und andere zärtliche Lautbildung, füttern und Pflegeverhalten. Weiteres Bindungsverhalten wird in der unmittelbaren Wechselwirkung mit dem Baby ausgelöst: Blickkontakt, körperliche Nähe suchen, Berührungen, Austausch leiser Töne und Klänge, von Geruch und Geschmack.
    All dies löst neurochemische Reaktionen im Gehirn des Babys aus, die für seine Hirnentwicklung ebenso wie für das Bindungs- und spätere Beziehungsverhalten verantwortlich sind (Perry, 2002). Das „Zeitfenster“ für die Entwicklung dieses Verhaltens ist relativ eng:
    Das Entscheidende passiert in den ersten zwölf Lebensmonaten, der Rest meist in den nächsten zwei Jahren.
    Entwicklung des Bindungs- und Beziehungsverhaltens
    Wird ein Kind im ersten Lebensjahr vernachlässigt, nimmt es schweren Schaden. Es kann viele Jahre dauern, und manchmal gelingt es nie, ein solches Kind – etwa in

Weitere Kostenlose Bücher