Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
Aufforderung auch immer die Erwachsenen an die Kinder richten: Die Kinder haben zu gehorchen, und tun es auch.
Die Erwachsenen benehmen sich kindisch, und die Kinder müssen sich wie kleine Erwachsene um die Eltern kümmern. In der Fachsprache heißt das „Parentifizierung“ der Kinder.
Gestern erst hat Papa eine ganze Zeit mit Fritten, Majonäse, Ketschup und Currywurst herumgealbert, bis dicke Flecken auf der Papiertischdecke waren; die Kinder wurden selbst dabei immer lauter und alberner. Plötzlich griff der Vater beide Kinder und knallte sie mit den Köpfen aneinander: „He! Benehmt euch! Los, Lars, hol mir ein Bier – Hanna, den Lappen, aber schnell!“ Später hatte Hanna, selbst eine dicke Beule am Kopf, Vater trösten müssen, der sich beim Brotschneiden in den Finger schnitt. Und war noch froh, dass „Trösten“ diesmal nur pusten und Wunde auswaschen und Pflaster kleben hieß und nicht, mit Papa ins Schlafzimmer zu müssen.
Man holt sich außen keine Hilfe; man ist besser als die Leute da draußen, die ja „eh keine Ahnung haben“ – ein weiteres ungeschriebenes Gesetz dysfunktionaler Familien.
Papa redet dauernd abfällig über Nachbarn und die Regierung und eigentlich überhaupt alle Menschen, für ihn sind das „alles Arschlöcher“. Doch wenn Hanna an seiner Hand spazieren geht, ist er immer sehr freundlich und höflich zu allen Leuten. Sobald die außer Hörweite sind, fängt er aber wieder an, über sie zu schimpfen. Zu Besuch darf sie niemand mit nach Hause bringen. Nur bei Geburtstagen, und dann wird besonders aufgeräumt, und alle tun so, wie sie eigentlich nur tun, wenn sie außerhalb der Wohnung sind ...
Die Doppelmoral, die Hanna hier lernt, wird sie tief verinnerlichen: Es gibt eine Welt draußen, da sind alle anders. Und es gibt eine Welt in den eigenen vier Wänden mit den nächsten Menschen, und da kann man eigentlich erst recht niemandem trauen, aber man ist eine „verschworene Gemeinschaft“, wie Papa sagt. Wenn man Hilfe braucht, muss man sehen, dass man sie von diesen Menschen bekommt. Leider sind es oft dieselben Menschen, denen man nicht trauen kann und die heimlich oder offen misshandeln ...
b) Von den Risikofaktoren für PTSD während der Traumatisierung, die noch zu beachten sind, möchte ich hier hervorheben, dass auch Zeuge und (Mit-) Täter bei einer Gewalthandlung zu sein besonders belastend sein kann. Traumatisiert werden also nicht nur die Menschen, welche die Wucht der traumatischen Einwirkung unmittelbar ertragen müssen. Auch wer Augen- oder Ohrenzeuge eines traumatisierenden Ereignisses wird, kann selbst schweren Schaden nehmen. Und nicht selten werden Angehörige stellvertretend traumatisiert, wenn sie ein traumatisiertes Familienmitglied (lange) begleiten und umsorgen müssen.
Beispiele für die Traumatisierung von Zeugen:
Ein Rettungswagenfahrer lädt ein Kind auf die Bahre, das dabei ist zu sterben. Das Kind ist im gleichen Alter und trägt die gleichen Ringelsocken wie sein eigenes Kind.
Eine Frau öffnet die Wohnungstür und findet ihren Mann erhängt im Flur vor.
Ein kleiner Junge muss zusehen, wie seine Eltern ermordet werden.
Ein Mädchen bekommt mit, wie der Vater im selben Kinderzimmer ihre Schwester missbraucht.
Was meist vergessen wird: Auch ein Großteil der Täter in der Gewaltkriminalität erlebt das Geschehen als Trauma, was sich an deutlichen Dissoziationen wie Amnesien, Derealisierungen und Depersonalisierungs-Erlebnissen während der Tat zeigt (siehe auch Glasser et al., 2001; Grand, 1997a; Romano & De Luca, 1997). Auch hier ein Beispiel:
Hans Bertram (Name geändert) ist wegen fünffachen Sexualmordes an Frauen verurteilt worden – als „serial killer“. Er übernimmt die Verantwortung für alle Taten und erhofft sich auch keine Vergünstigungen. Dennoch wendet er sich an mich und erzählt mir am Telefon, wie es ihm mit den Morden gegangen ist: „Die ersten drei Morde habe ich erst vor Gericht aus den Akten erfahren. Davon weiß ich gar nichts. Was ich wusste, war, dass ich mich in diese Frauen verliebt hatte, und dass sie eines Tages aus meinem Leben verschwunden waren. Bei der vierten Frau – auch in sie hatte ich mich verliebt – habe ich wie durch eine weiß verschleierte Milchglasscheibe zugesehen, dass Hände nach ihr griffen und ihr wehtaten. Es war wie ein Film für mich, ein schrecklicher Horrorfilm; aber ich habe es nicht mit mir, nicht mit dem Jetzt in Verbindung gebracht. Erst beim fünften Mord habe ich
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