Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
verantwortlich machte, stellte man später fest, dass noch ganz andere Ereignisse, etwa körperliche und sexuelle Misshandlungen, zu gravierenden Beeinträchtigungen der Bindungsfähigkeit führen können.
Bindungsstile
Auf Bowlbys Arbeiten aufbauend, fand seine Schülerin Mary Ainsworth zunächst drei Bindungsstile heraus: sichere Bindung, unsicher-vermeidende und unsicher-ambivalente Bindung (Ainsworth, 1978).
Wie häufig diese Bindungsstile sind, können Sie in der folgenden Tabelle sehen (nach Perry, 2002):
Bindungsstil
Bei Einjährigen vorfindbar in Prozent
Verhalten in der „Fremden Situation“
Sicher gebunden
60–70 Prozent
In der ungewohnten Situation zunächst neugierig; aufgeregt bei Trennung; warme Begrüßung bei der Rückkehr der Mutter; strebt nach Berührung und Trost beim Wiedersehen.
Unsicher-vermeidend
15–20 Prozent
Ignoriert anwesende Mutter; folgt der Mutter mit den Augen, wenn sie das Zimmer verlässt; wendet sich beim Wiedersehen von ihr ab.
Unsicher-ambivalent
10–15 Prozent
Wenig Neugier; bleibt in der Nähe der Mutter; sehr verzweifelt bei Trennung; ambivalent oder wütend und wehrt sich gegen Mutter beim Wiedersehen.
Desorganisiert/desorientiert
5–10 Prozent
Gleichzeitigkeit oder schnelle Aufeinanderfolge von Annäherung und Meidung der Mutter; verwirrt und benommen; dissoziative Zustände (für Sekunden wie im „Halbschlaf“ oder in Trance sein).
Fremde Situation
Festgestellt werden die Bindungsstile der Kinder in der sogenannten Fremden Situation, das ist seit Jahrzehnten die Testsituation schlechthin, die dazu dient, das Bindungsverhalten von 12 bis 18 Monate alten Kindern festzustellen. Die „Fremde Situation“ sieht so aus: Die Mutter (oder eine andere Bezugsperson) und das Kleinkind werden in einen für sie fremden Raum gebracht, in dem interessantes Spielzeug herumliegt. Nach einer Weile betritt eine fremde Person den Raum und spricht nach ein paar Minuten die Mutter an. Auf ein Klopfzeichen hin verabschiedet sich die Mutter kurz von dem Kind und verlässt das Zimmer, die fremde Frau macht dem Kind nach einer kurzen Zeit ein Trost- und Mitspielangebot. Die Mutter betritt wieder das Zimmer, die fremde Frau geht hinaus. Nach weiteren Minuten verlässt die Mutter wortlos das Zimmer und kehrt nach spätestens drei Minuten – wenn das Kind sehr aufgeregt ist auch früher – wieder zurück.
Per Videokamera werden während der gesamten „Fremden Situation“ die Interaktionen zwischen Mutter (oder anderer Bezugsperson) und Kind gefilmt und später von unabhängigen Beobachtern nach bestimmten Kriterien von Sicherheit oder Unsicherheit eingeschätzt.
Heute weiß man, dass das, was nach der Auswertung des Kleinkind-Verhaltens in und nach den Trennungssituationen für eine „Bindungsklassifikation“ herauskommt, einen verlässlichen Vorhersagewert für das Bindungsverhalten des sechsjährigen sowie des jugendlichen und erwachsenen Menschen darstellt (siehe u.a. Carlson, 1998; Ogawa et al., 1997; Solomon & George, 1999; Wartner et al., 1994).
Sicher gebunden
Wer sicher gebunden ist, kann als Erwachsener später von sich sagen: „Es fällt mir leicht, anderen Menschen gefühlsmäßig nahe zu sein. Ich weiß sehr wohl, dass ich in intimen Beziehungen von der anderen Person abhängig bin, und das ist ganz in Ordnung für mich. Genauso ist es in Ordnung für mich, wenn ich weiß, dass die andere Person von mir abhängig ist. Auch allein zu sein fällt mir leicht; und es macht mir nichts aus, wenn ich mal feststelle, dass ich von anderen für das, was ich bin und vertrete, nicht akzeptiert werde.“ (Nach Bartholomew & Horowitz, 1991)
Dies ist die Mischung aus Bindungsfähigkeit und Autonomie, von Wurzeln und Flügeln, die eine sicher gebundene Mutter oder andere wesentliche Bezugsperson dem Kind früh vermittelt haben. Eine sicher gebundene und ihrerseits sicher bindende Mutter wird selbst das Gefühl haben, ein eigenständiger und liebenswerter Mensch zu sein, wird diese Gefühle auch ihrem Baby übertragen und beide Aspekte: liebevolle Nähe und Autonomie, fördern. Sie selbst ist empathiefähig und vermittelt diese für ein geglücktes Beziehungsleben so wertvolle Fähigkeit auch ihrem Kind.
Seit vielen Jahren stellt man mit dem Adult Attachment Interview (in deutscher Version abgedruckt in Brisch, 2001) die sogenannte Bindungsrepräsentation von Erwachsenen fest, und es ist jeweils eine sehr starke Übereinstimmung (70 bis 90 Prozent) zwischen dem Bindungsstil
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