Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
Empathiefähigkeit (Brisch, 2002).
Das spätere Verhalten der desorganisiert gebundenen Kinder wird sich vor allem darin zeigen, dass sie sich äußerst bemühen, die Beziehung zu anderen Menschen zu kontrollieren, wobei sie selbst Defizite im Sozialverhalten haben (Jacobvitz & Hazen, 1999; Wartner et al., 1994). Dabei werden sie tendenziell zu einer von zwei Möglichkeiten greifen: Sie werden sich entweder feindselig-bestrafend verhalten oder tröstend-fürsorglich – dies aber stets in kontrollierender Absicht. Und: Sie können später nicht flexibel zwischen beiden Verhaltensstilen abwechseln, sondern bleiben rigide bei jeweils einem davon, wodurch sie sich soziale Schwierigkeiten einhandeln. Ein Kind, das immer feindselig oder immer fürsorglich reagiert, auch gegenüber Spielkameraden, bei denen dieses Verhalten jeweils gar nicht angemessen ist, wird bald abgelehnt werden, all seiner Bemühungen um Kontrolle der Situation zum Trotz. (Lyons-Ruth & Jacobvitz, 1999, haben zahlreiche Studien hierzu zusammengefasst.)
Wie chaotisch und zutiefst erschreckt misshandelte Kinder mit der desorganisierten Bindung reagieren, zeigt sich an einigen Studien an Kindern, bei denen man schon als Ein- bis Anderthalb-Jährigen den Bindungsstil in der „fremden Situation“ festgestellt hatte und die man in der Nachuntersuchung mit sechs Jahren in Spielszenen Trennungsszenarios von den Eltern in Geschichten fortspinnen ließ. Im Gegensatz zu den sicher gebundenen Kindern, die recht klar Trennungsängste zum Ausdruck bringen konnten, aber jeweils adäquate Lösungen zum Trösten des „verlassenen Kindes“ und ein Happy End erfanden, schilderten die desorganisiert gebundenen Kinder erschreckende Horrorgeschichten, in denen tödliche Unglücke, Mord und Suizid vorkamen und die auch chaotisch oder unglücklich endeten. Sich selbst stellten die Kinder, indem sie eine Puppe für sich agieren ließen, als gewalttätig, feindselig, negativ oder in ihrem Verhalten unberechenbar dar (Kaplan, 1987; Main, Kaplan & Cassidy, 1985; Solomon, George & De Jong, 1995; Cassidy, 1988).
Weitere Studien zeigen: Je unvorhersagbarer, traumatischer und erschreckender die frühe Bindungssituation des Kindes ist, desto wahrscheinlicher wird es kein kohärentes Verhalten, ja kein kohärentes Selbst entwickeln können und daher dauerhaft ein desorganisiertes und desorientiertes Bindungs- und Beziehungsverhalten zeigen.
Misshandlung
Das erschreckendste Verhalten, das Eltern einem Kind gegenüber an den Tag legen können, ist natürlich körperliche und sexuelle Misshandlung (zusammengefasst in: Kotch, Muller & Blakely, 1999). Es darf also niemanden verwundern, dass mehr als 80 Prozent der misshandelten Kinder in entsprechenden Untersuchungen ein desorganisiertes Bindungsmuster hatten. Aber auch Eltern mit einer ungelösten Traumageschichte und einer Panikstörung, die ihrerseits sozusagen chronisch zutiefst erschreckt sind, neigen dazu, ihre Kinder zu erschrecken und ein desorganisiertes Bindungsverhalten in ihnen auszulösen. Dies ist vor allem für Mütter untersucht worden. Entscheidend für ein erschreckendes Verhalten der Mütter scheinen eigene ungelöste Verlust- und Misshandlungserfahrungen zu sein, die zu einer starken eigenen „Schreckhaftigkeit“ führen sowie dazu, dass sie ihr eigenes Kind oft erschreckend finden und ihm dies spiegeln. Zu den Verlusterfahrungen der Mutter, die sich in der Entwicklung eines desorganisierten Bindungsmusters zum Kind auswirken, gehört besonders die, im Zeitraum von zwei Jahren vor der Geburt des Kindes einen nahestehenden Menschen verloren zu haben.
Mary Main und ihre Mitarbeiter haben ein Beobachtungssystem für elterliches Verhalten entwickelt, das ermöglicht, bestimmtes erschrecktes und erschreckendes Verhalten zu analysieren. Dabei stellten sie fest, dass die Mütter sich genauso desorganisiert und chaotisch, so überfallartig invasiv, sexualisiert und/oder dissoziativ verhielten, wie es später als Verhalten bei desorganisiert gebundenen Kindern zu beobachten war (siehe u.a. Hesse & Main, 1999; Main & Hesse, 1998).
Zwar gibt es auch durchaus sicher gebundene Erwachsene, die noch ungelöste Traumata oder Verlusterfahrungen aus ihrer Lebensgeschichte mit sich herumtragen, wenn sie ein Kind bekommen. Doch diese werden weniger häufig ihr Kind erschrecken oder misshandeln und ihm so ein desorganisiertes Bindungsverhalten „vererben“ als Eltern, die selbst misshandelt wurden und/oder schon selbst einen
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