Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
werden mit hoher Wahrscheinlichkeit desorganisiert gebundene Kinder „produzieren“ (Brisch, 2002).
Developmental Traumatology
Ergänzt werden solche Befunde von den neuesten Forschungsergebnissen der sogenannten Developmental Traumatology, in denen konkrete Folgen nicht nur von desorganisierten Bindungserfahrungen, sondern unmittelbar von Kindesmisshandlungen untersucht werden. Neben Daniel Siegel ist Michael DeBellis, Psychiater an der Universität Pittsburgh, ein herausragender Vertreter dieses neuen Faches. In einem jüngst veröffentlichten Überblicksbeitrag schreibt er: „Der überwältigende Stress früher Verlust- und Misshandlungserfahrungen in der Kindheit ist verbunden mit Veränderungen biologischer Stresssysteme und hat schädliche Einflüsse auf die Hirnentwicklung. Letztere wird durch Gene geregelt, die äußerst empfindlich auf – insbesondere frühe – Lebenserfahrungen reagieren.“ (DeBellis, 2001)
Die psychobiologischen Folgeerscheinungen von Kindesmisshandlung fasst DeBellis zusammen im Begriff umweltbedingte komplexe Entwicklungsstörung. Konkret: Kindesmisshandlung ist
umweltbedingt, weil sie von erwachsenen Bezugspersonen gegen Kinder ausgeübt wird;
sie verursacht eine komplexe Störung, das heißt auf allen Ebenen von Denken, Fühlen, Verhalten, sozialen Beziehungen, Leistungen und Fähigkeiten – und auch im Gehirn selbst sowie in der sonstigen körperlichen Funktionen können erhebliche Beeinträchtigungen auftreten;
Entwicklungsstörung bezieht sich nicht nur darauf, dass sich das Sozialverhalten und die motorischen Fähigkeiten aufgrund von Misshandlungen verschlechtern können. Sondern frühe Misshandlung und auch früher Verlust und Vernachlässigung wirken sich sogar, wie wir heute wissen, negativ auf die Entwicklung von Nervenzellen, Synapsen (also Verbindungsstellen von Nervenzellen), bestimmten Hirnstrukturen wie dem Pons, also der Brücke zwischen den Großhirnrinden und dem Hippocampus – dem Archiv unseres Gedächtnisses –, aus.
Wer sich über die Auswirkungen früher Traumata auf die Hirnphysiologie, die Hirnentwicklung, die kognitiven Fähigkeiten sowie das emotionale und soziale Leben einen genaueren Überblick verschaffen möchte, kann neben den Arbeiten von Daniel Siegel (1999 und 2001) und DeBellis (2001) auf folgende Publikationen aus den letzten Jahren zurückgreifen: Bremner et al., 1995, 1997; Cahill, 1997; Driessen et al., 2000; Egeland & Susman-Stillman, 1996; Ellason et al., 1996 a,b; Foa & Hearst-Ikeda, 1996; Hesse & Main, 2000; Irwin, 1999; van der Kolk et al., 1997; Lyons-Ruth & Jacobvitz, 1999; Markowitsch et al., 1998, 1999; Mueser et al., 1998; Mukerjee, 1995; Nijenhuis et al., 2002; Sapolsky, 1996; Scaer, 2001; Schore, 2002; Solomon & George, 1999; Stein et al., 1997 a und b; Weinstein et al., 2000; Widom & Kuhns, 1996; Zumbeck, 2001.
Hier ein Überblick über die Zusammenhänge – wobei die Faktoren sich wie in einem Teufelskreis oder besser: einer Abwärtsspirale – auch gegenseitig beeinflussen können (siehe De Bellis, 2001):
Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit
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PTSD-Symptome
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Veränderungen der Katecholamine und der HPA-Achse
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Veränderungen im Hirnstoffwechsel
(z. B. verstärkter Verlust von Neuronen)
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Nachteilige Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns (kleineres Hirnwachstum,
kleineres Corpus Callosum [„Brücke“], kleinerer Hippocampus ...)
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Negative Auswirkungen auf die kognitive und psychosoziale Entwicklung
Diese geradezu dramatischen Auswirkungen früher Traumata lassen deutlich werden, wieso viele Betroffene, die auch später im Leben noch traumatisiert werden, mit einer Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung bzw. einer dissoziativen Identitätsstörung reagieren können, wie sie in Kapitel 1, 2 und 5 beschrieben werden.
Welche Schäden es in der Entwicklung einer kindlich traumatisierten Persönlichkeit geben kann, dafür einige Beispiele (nach Perry, 2002):
Beispiele für Entwicklungsschäden nach Traumata
Entwicklungsverzögerungen
körperlich, seelisch, sprachlich, geistig-kognitiv
Essverhalten
Nahrungsmittel horten; „essen, als gäbe es bald nichts mehr“; Anorexie (Hungern), Bulimie (Ess-Brech-Sucht), Fresssucht; Wachstumsprobleme; Schluckbeschwerden
Stressabbau-Verhalten
Haare und Nägel kauen; mit dem Kopf gegen die Wand schlagen; schaukeln; ständiges Singen oder Pfeifen; sich selbst kratzen, schneiden oder verbrennen ...
Emotionales Verhalten
Depressionen und
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