Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
führen können, dass man als schwerbehindert gilt, dass man von den privaten Versicherungen entweder gar nicht oder nur mit erheblichen Aufschlägen versichert wird, dass man so gut wie keine Chance auf den Abschluss einer freiwilligen Lebensversicherung oder einer Krankentagegeldversicherung hat und dass es den Overkill für die Berufskarriere bedeuten kann, jemals eine solche Diagnose auch nur als „V.a.“ – also „Verdacht auf – in irgendwelchen Akten stehen zu haben, dann sollten ÄrztInnen und PsychologInnen doch sehr viel vorsichtiger mit solchen Diagnosen werden. Vielleicht sollten sie stattdessen lieber danach schauen, ob es sich bei dem Beobachteten um Folgen von Traumatisierungen handelt, und dann die korrektere Diagnose stellen, nämlich eine der Formen von PTSD, also Posttraumatische Belastungsstörung. Hier kommen dann vor allem die neuen Diagnosen DESNOS (Disorder of Extreme Stress) bzw. „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ infrage, da diese ausdrücklich die Probleme der Affektregulation mit benennen (hierzu weiter unten mehr). Außerdem scheinen alle Diagnosen, die den Hauptabwehrmechanismus bei Traumata, nämlich Dissoziation, in den Vordergrund stellen, von größerer Aussagekraft zu sein als die Persönlichkeitsstörungsdiagnosen (Literaturtipps zu diesem schwierigen Thema Persönlichkeitsstörungen und/oder traumabedingte Störung finden Sie hier ).
Was die dissoziativen Störungen angeht, also nicht die normale Alltagsdissoziation, sondern pathologische oder sogar chronische Dissoziation, so hat Bettina Overkamp in ihrer empirisch fundierten und die neuere Literatur auswertenden Dissertation festgestellt: „Nur relativ wenige Menschen (10 bis 15 Prozent) reagieren auf ein Trauma sofort mit einer chronischen Dissoziation, obwohl vorübergehende dissoziative Symptome weitverbreitet sind (Marmar et al., 1998; Nijenhuis et al., 1998; Rodin et al., 1998; Ross-Gower et al., 1998; Irwin 1996, 1999; Putnam 1995; Chu & Dill 1990).“ Aber: „Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer pathologischen Dissoziation erhöht sich deutlich bei wiederholten Traumatisierungen ... Die Prävalenz [das Vorkommen] allgemein diagnostizierbarer, klinisch signifikanter Störungen nach Traumata variiert von circa 5 Prozent nach Unfällen bis zu über 50 Prozent nach Kriegserlebnissen sowie 70 bis 95 Prozent nach Vergewaltigung (Maercker & Schützwohl, 1999)“ (Overkamp, 2002).
Da dies so ist, sollte eine Diagnostik auf dissoziative Störungen nach stattgefundenen Traumatisierungen zur Routine gehören – in jedem Fall aber nach wiederholten, chronischen Traumatisierungen.
Im Diagnosehandbuch ICD-10 (Dilling, 1993) werden folgende dissoziative Störungsdiagnosen unterschieden (siehe auch Kapitel 2):
dissoziative Amnesie (F 44.0);
dissoziative Fugue (F 44.1);
dissoziativer Stupor (F 44.2) – damit ist die Verringerung oder das Fehlen von Willkürbewegungen oder normaler Reaktionen auf Außenreize gemeint, wobei körperliche Ursachen ausgeschlossen sein müssen;
Trance- und Besessenheitsstörung (F 44.3), die oft im religiösen Zusammenhang auftritt (etwa bei schamanischen Ritualen);
dissoziative Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindung (F 44.4–F44.7);
sonstige dissoziative Störungen; dazu gehören das heute so gut wie nie mehr diagnostizierte „Ganser-Syndrom“ („Vorbeiantworten“) = F 44.80, die multiple Persönlichkeitsstörung, im DSM-IV (und überhaupt international heute) als dissoziative Identitätsstörung bezeichnet = F 44.81, und vorübergehende dissoziative Störungen in Kindheit und Jugend = F 44.82.
Zu diesen Diagnosen lässt sich sagen, dass kaum eine davon – außer der dissoziativen Identitätsstörung – in Arztberichten als alleinige Diagnose auftaucht, sondern meist in Kombination mit der Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Besonders die dissoziativen Störungen, die sich verändernd auf die gesamte Persönlichkeit auswirken, sind wichtig zu identifizieren und auseinanderzuhalten.
Wie lassen sich schwere dissoziative Störungen begreifen?
Da sie mein Spezialgebiet sind, habe ich mir hierzu im Laufe der vielen Jahre, die ich KollegInnen ausbilde, ein paar optische „Umsetzungen“ einfallen lassen, die solch eine komplizierte Materie hoffentlich etwas leichter verständlich machen. Hier zunächst ein paar Grafiken dazu im Überblick:
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