Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
schwerer es Menschen mit einer Ego State Disorder – so nennt man diese chronifizierte Form der dissoziativen Störung – fällt, von einem Ich-Zustand zum anderen zu kommen (Watkins & Watkins, 1997). Um das Bild anders zu deuten: Es könnte sich auch um ein Steuerruder handeln, und der Teil in der Mitte muss sich äußerst bemühen, das Ruder immer wieder „herumzureißen“, also von einem Ich-Zustand in den nächsten möglichst adäquat zu wechseln. Es kann sogar zu Teilabspaltungen kommen, die dann im Alltagsbewusstsein kaum noch steuerbar sind – dies wird durch die Blütenblätter angedeutet, deren Kontakt zum Zentrum „abgerissen“ ist.
Ein Beispiel:
Renate Freundlich (Name geändert) kommt zu mir mit der Frage: „Bin ich wohl multipel?“ Und erklärt, dass sie von der dissoziativen Identitätsstörung gehört hat: „Irgendetwas daran trifft auch auf mich zu.“ Nach einer sorgfältigen Diagnostik kann ich sie beruhigen: Nein, sie ist nicht multipel. Doch es ist ganz deutlich: Sie hat sehr verschiedene Anteile in sich und leidet zum Teil erheblich darunter, dass sie „so verschieden ist“. In ihrem Beruf ist sie „ganz die tolle berufstätige Frau“, aber in der Theater-AG, in der auch einige Kollegen sind, „da spiele ich manchmal ganz obszöne Rollen oder auf derbe Weise den Clown, das ist mir hinterher immer sehr peinlich“. Bei mir erscheint sie manchmal wie ein draufgängerischer, aber charmanter kleiner Junge mit Knickerbockern und Schiebermütze – irgendwie erinnert sie mich dann an den kleinen Jungen auf dem Plakat mit Charly Chaplin als „Tramp“. Ein andermal kommt sie mit zartesten Blüschen, spricht leise und ängstlich wie ein kleines Mädchen. Dann wieder wirken ihre Bewegungen eckig und ungelenk, und sie kann „brutale“ Sätze äußern. Immer wieder bricht etwas aus ihr heraus, und sie schildert, dass sie große Mühe habe, die verschiedenen Anteile zu akzeptieren, geschweige denn, sie zu steuern.
Multipel ist sie jedoch nicht, weil sie keine pathologischen Alltags-Amnesien hat; sie weiß immer, wann sie in welcher Rolle ist, und mit einiger Konzentration schafft sie es auch, von einem Persönlichkeitsanteil zum anderen zu wechseln. „Die kommen eher so aus mir hervor“, sagt sie. „Mit Mühe kann ich es verhindern oder zulassen, aber trotzdem irritiert es mich, und ich frage mich oft: Wer bin ich denn eigentlich?“
Ein pures Rollenspiel ist es aber auch nicht, denn sie fühlt sich von außen gesteuert: Je nachdem, wer oder was gerade auf sie zukommt (die Chefin, ihr Berufsalltag, ihr Sohn, ihr Mann, ihre Theater-AG-Mitspieler etc.), „wechselt“ sie ihre Identitäten. Meist ist dies funktional. Doch wenn sie durcheinander ist, kann auch schon mal zur Unzeit ein anderer Teil der Persönlichkeit nach außen „rutschen“, und das ist ihr dann äußerst peinlich.
In der Anamnese ergibt sich: Schon als Kind hat sie sich oft „weggeträumt“ in andere Wesen und Identitäten. Und das musste sie offenbar auch, denn sie schildert, sowohl vom Großvater als auch vom Vater sexuell misshandelt worden zu sein. Niemand half dem Kind, niemand sprach über die namenlosen Schrecken mit ihr, also hat sie, die über eine starke dissoziative Fähigkeit verfügt, sich selbst geholfen und unterschiedliche Ich-Zustände geschaffen, darunter einige, die von der Gewalt nichts wussten, aber durchaus kreative oder auch „heimliche“ Selbst-Anteile verkörperten. Als Erwachsene hadert sie mit dieser Fähigkeit: Jetzt möchte sie lernen, selbst zu bestimmen, welche Teile von ihr nach außen hin sichtbar werden und welche nicht. Und sie möchte zu einer integrierten kohärenten Persönlichkeit zusammenwachsen.
Entstehung der Ego State Disorder
Wie lässt sich die Entstehung einer solchen Ego State Disorder erklären? Frank Putnam, einer der Pioniere der Dissoziationsforschung, beschreibt den Vorgang der gesunden Ich-Entwicklung sinngemäß so (Putnam, 1997): Ein Kind kommt mit etwa fünf Ich-Zuständen auf die Welt, von denen drei einfach unterschiedliche Schlafmuster sind und zwei mit der Nahrungs- und Kontaktaufnahme zu tun haben. Beim Heranwachsen – auch sein Gehirn muss ja allmählich wachsen, siehe hierzu das Kapitel 4 – gerät das Kind zunächst in einen Zustand nach dem anderen, ohne dies steuern zu können. Solche Zustände – anfangs nicht mehr als Assoziationsmuster aus Wahrnehmungen und Empfindungen, später kommen Gedanken und Erinnerungen hinzu – vervielfältigen und
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