Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
versucht, den „Überlebenden“ etwas von ihrer Not und ihren Schuldgefühlen zu nehmen.
Auch wenn ich ihren Entschluss deswegen nicht für „richtig“ halte – wer bin ich, wer sind die Überlebenden, sich anzumaßen, einen Menschen, der mit klarem Bewusstsein Suizid begeht, das Leben aufzwingen zu wollen und dies für eine bessere Alternative zu halten? Frau Aller hatte das Letzte getan, worüber sie noch die Kontrolle hatte: Sie hatte ihr Ende selbst bestimmt und selbst gestaltet.
Wie mag es Ihnen gehen, wenn Sie diese Geschichte lesen? Ich bin immer noch hin und her gerissen zwischen dem Akzeptieren der Entscheidung der Klientin und der Trauer darüber, dass sie nicht am Leben bleiben und in ihrem Sinne besser leben lernen konnte, so wie sie es sich auch gewünscht hatte. Und natürlich bin ich immer noch zornig auf diese Familie, der nichts Besseres eingefallen ist, als ihre Tochter, Schwester und Nichte zum Opfer zu machen, wieder und immer wieder, und dies sogar mit ihrem Kind zu wiederholen.
Inzwischen bin ich um einige Jahre älter, und meine Erfahrungen mit dem Thema Suizidalität sind – nicht nur durch meine psychotherapeutische Arbeit, sondern auch durch die Begleitung Hunderter von Lebensgeschichten durch meine Tätigkeit als Supervisorin und Ausbilderin – doch um ein Vielfaches reichhaltiger geworden. Wie gesagt, glücklicherweise ist dies der einzige vollendete Suizid unter meinen Klientinnen geblieben, und auch bei den von mir indirekt begleiteten Therapien ist bislang kein Suizid geschehen. Ebenso wenig wie die meisten Menschen möchte ich einfach nicht, dass jemand stirbt, den oder die ich kenne, und ich versuche professionell und persönlich dazu beizutragen, dass das Leben eine lebbare und bessere Alternative ist. Einmal jedoch musste ich offenbar erfahren, wie begrenzt meine Möglichkeiten sein können. Dies hat zu einer gewissen Bescheidenheit beigetragen und zu einem Respekt für die Entscheidungen der KlientInnen, ob sie den Notausgang Suizid benutzen wollen oder nicht. Neulich habe ich per Video ein Gespräch mit einer multiplen Klientin über deren Integration aufgenommen. Darin sagte sie unter anderem: „Als ich noch viele war, haben wir immer gewusst, dass du weiterleben und -arbeiten würdest, sollten wir uns umbringen. Das war sehr erleichternd und hat uns geholfen, am Leben zu bleiben. Du hast uns klargemacht, dass du auf der Seite des Lebens stehst, aber auch, dass du einen Respekt hast davor, dass man nicht alles überleben kann. Wir haben uns ernst genommen gefühlt, gerade diejenige von uns, die so verzweifelt war, und das hat sehr geholfen. Jetzt merke ich, dass es um dieses Thema in mir nicht mehr geht.“
Diese Aussage hat mich überrascht, denn sie war nie während der Therapie gefallen, sondern die Klientin hat sie mir erst Jahre später aus Anlass dieses Nachgespräches gesagt.
Mit Suizidalität – den immer wiederkehrenden quälenden Gedanken und Impulsen, sich das Leben zu nehmen – gehen wir in der Traumabehandlung regelmäßig um. Es gehört zu unserem Alltag. Und oft genug wandeln wir auf einem schmalen Grat. Wenn wir bei jedem geäußerten Suizidgedanken gleich die Klientin in die Psychiatrie einweisen würden, dann würden unsere KlientInnen und PatientInnen uns nicht mehr davon erzählen. Doch ihre „lebensmüden“ Gedanken gehen dadurch nicht weg. Psychotherapie lebt davon, dass wir offen miteinander über alles sprechen können, was die KlientIn bewegt. Wir müssen also ein feines Gehör und Gespür dafür entwickeln, ob die KlientIn akut so gefährdet ist, dass sie „eine Gefahr für sich selbst oder andere“ darstellt. Wenn das der Fall ist, hilft tatsächlich oft eine – vorübergehende – Klinikeinweisung. Wobei wir uns darüber im Klaren sein müssen, dass bei akuter Suizidalität die meisten psychiatrischen Kliniken nichts weiter unternehmen, als die Person auf eine geschlossene Abteilung zu verlegen und ihr Medikamente anzubieten. (Wobei wir schon froh sein können, wenn sie ihr nur angeboten und nicht zwangsweise verabreicht werden.) Dennoch ist es oft wichtig, erst einmal über die akut suizidale Phase hinwegzukommen, indem die Person „vor sich selbst in Sicherheit gebracht“ wird, um dann eine Chance zu haben, durch weitere psychotherapeutische Arbeit den Lebensmut (wieder) zu finden. In jedem Fall aber ist die tägliche traumaorientierte Psychotherapie ein Drahtseilakt in Bezug auf (chronische) Suizidalität, die von uns
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