Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
nie wiedersehen sollte.
Am nächsten Morgen in der Praxis hörte ich ihre Stimme auf meinem Anrufbeantworter, und ihre Worte haben sich für immer unauslöschlich in mein Gehirn eingegraben. Sie sagte mit ruhiger und klarer Stimme: „Es tut mir sehr leid, aber ich kann den mit Ihnen geschlossenen Selbstschutzvertrag nicht einhalten.“
Dieser Vertrag sah vor, dass sie, die schon mehrere Suizidversuche hinter sich hatte, bei derartigen Anwandlungen erst zu mir in die nächste Stunde kommen, mir ihre Absicht darlegen und den Therapievertrag mit mir beenden musste. In der Regel führt dies dazu, dass in der nächsten Stunde das Thema der Lebens-Verzweiflung in den Mittelpunkt gerückt wird und am Ende der Stunde ein neuer Vertrag dabei herauskommt, und sei es nur eine Vertragsverlängerung bis zum nächsten Psychotherapietermin. Wenn dies nicht geht, wird meist eine Klinikeinweisung veranlasst. Dies alles war also nicht mehr möglich.
Und weiter sagte Frau Aller auf dem Anrufbeantworter: „Ich weiß sehr genau, was ich tue. Ich kann einfach nicht mehr, und ich will auch nicht mehr. Das ist nicht Ihre Schuld. Ich habe mich noch nie so verstanden gefühlt und so angenommen, das habe ich Ihnen ja schon gesagt. Ich kann Sie nur bitten, meinen Entschluss zu respektieren. Und ich erinnere Sie an Ihre Schweigepflicht und an meine Würde.“
Der Anrufbeantworter verzeichnete eine Uhrzeit um Mitternacht für diesen Anruf.
Ich dachte noch darüber nach, was ich jetzt tun solle, als das Telefon klingelte. Ein Kripobeamter erklärte mir, Frau Aller sei in der Nacht gestorben, an einer Überdosis Medikamente in Kombination mit Alkohol. Ob ich ihr die Medikamente verschrieben hätte, sie hätte rund 80 Tabletten geschluckt, wörtlich: „Die wollte ganz sichergehen.“ Ich erklärte dem Beamten, dass ich als Psychologin keine Medikamente verschreiben kann, und er wollte sich daraufhin an ihren Hausarzt wenden. Als ich auflegte, war ich wie betäubt, trauerte, fühlte mich schuldig, war phasenweise wütend auf die Klientin – hatte sie mir doch etwas vorgespielt in der letzten Stunde? Dann sah ich sie wieder vor mir, hörte das Band ab, schüttelte den Kopf und war ziemlich durcheinander.
Nach ein paar Tagen rief ich einen Kollegen an, der jahrzehntelange Erfahrung in der Arbeit mit traumatisierten Menschen hatte. Mit ihm ging ich die Gespräche mit der Klientin noch einmal durch. Hatte ich etwas falsch gemacht, etwas übersehen? Mein Kollege sagte schließlich: „Wir kennen eine solche Reaktion. Ich habe das selbst schon in meiner klinischen Praxis erlebt. Wissen Sie, manchmal hat ein Mensch das Leben lang danach gesucht, einmal jemanden zu finden, der oder die zuhört, versteht, endlich, nach all den Jahren. Und plötzlich ist es so weit. Eigentlich – so denkt man dann – muss man jetzt glücklich sein und eine Aufbruchstimmung haben. Aber es kann auch anders kommen: Nun ist es an ihr gewesen, an Frau Aller, sich zu verändern, nun war sie an der Reihe, Schritt für Schritt vorwärtszugehen, Entscheidungen zu treffen, Schmerz auszuhalten, den früheren, den jetzigen, und den Schmerz der Veränderung. Und manche merken an dieser Stelle: Ich kann das nicht. Es ist zu spät. In diesem Leben werde ich das nicht mehr schaffen. Vielleicht, weil die Loyalität zu den Eltern, die ihr gleichzeitig so viel angetan hatten, so groß war und blieb – zu groß, um sich zu lösen. Diese Erkenntnis kann sie buchstäblich in eine tödliche Verzweiflung stürzen und den definitiven Suizid auslösen.“
Vergleichen Sie diese Geschichte mit den Erklärungsversuchen von Christina Rachor. Appell? Erpressung? Risiko und Spiel? Hat diese Frau gesellschaftliche Widersprüche gelöst, indem sie sich selbst entsorgte, wie Frau Rachor in ihrem Buch nahelegt?
Ich glaube: Nein. Frau Aller war an einem Wendepunkt ihres Lebens angelangt, an dem sie eine Entscheidung fällen musste: Schaffe ich die Veränderung oder schaffe ich sie nicht. Und sie fällte diese Entscheidung, ruhig, vielleicht auch mit einer gewissen Erleichterung, die ich auch bei der letzten gemeinsamen Sitzung gespürt und falsch als Erleichterung über die von der Krankenkasse bewilligten Therapiestunden gedeutet hatte. Sie hatte sogar, wie ich später von ihrer Mitbewohnerin erfuhr, noch all ihre Angelegenheiten zu Hause geregelt und die Wohnung aufgeräumt, sich von ihrer Freundin verabschiedet, die früher schon bereit gewesen war, sich um ihre Kinder zu kümmern, und hatte überall
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