Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
Medikament zu geben (etwa Naltrexon, einen Morphin-Antagonisten), um damit den Selbstverletzungsdruck zu verringern (siehe u.a. Russ et al., 1994; Simeon et al., 1992; Winchel & Stanley, 1991). Dieser Ansatz kann aber nicht erklären, warum es weit überwiegend Frauen sind, die zum Mittel der Selbstverletzung greifen. Die Frage ist also: Warum?
Warum überwiegend Frauen?
Während die Umstehenden oft hilflos auf einen vollendeten Akt der Selbstverletzung reagieren, haben viele Selbstverletzerinnen ein ganz anderes Gefühl, das sie selten so formulieren, sondern eher nonverbal zum Ausdruck bringen: Sie betrachten Selbstverletzung als vorletzten Akt von Autonomie. Der letzte mögliche autonome Akt ist nach dieser Logik der Suizid.
Wieso Autonomie? Offenbar ist mithilfe der Selbstverletzung ein eigenes Handeln, eigenes Eingreifen, eine Form von „Ich bestimme!“ möglich, das die Betreffende auf keine andere Weise erreichen kann.
So dient Selbstverletzung einem wesentlichen Zweck, der meist unbewusst ist: die Kontrolle über Affekte, also Gefühlszustände, zu bekommen. Kontrolle in dem Sinn, der traumatisierenden Grunderfahrung nicht mehr so hilflos ausgeliefert zu sein.
Nicht nur der Hintergrund, sondern auch der jeweilige Auslöser für einen Akt von Selbstverletzung ist Stress. Das ist bei chronisch sich selbst verletzenden Menschen nicht anders als bei Menschen, die sich selten und „zufällig“ schneiden oder verbrennen. Doch was bei „Normalos“ aus Unachtsamkeit, Fahrigkeit oder dem Zwang, mehrere Dinge auf einmal tun zu müssen, passiert, ist bei chronischen SelbstverletzerInnen ein eingespieltes Muster der Stressbewältigung, das bis zu ausgeklügelten Ritualen gehen kann.
Wir alle tun nicht nur vieles, um unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden zu erhalten. Sondern die meisten Menschen greifen zumindest hin und wieder zu Mustern der Stressbewältigung, die nicht unbedingt förderlich sind: das Glas zu viel abends nach einem anstrengenden Tag; das exzessive Arbeiten, um dem privaten Konflikt aus dem Weg zu gehen; das Schlucken von Beruhigungs-, Schmerz- und Schlafmitteln, statt sich mit den Gründen der Unruhe und der Schmerzen zu beschäftigen; das Rauchen; die Partydrogen; der „geklaute Lippenstift“; die Sportexzesse, nach denen Blessuren zurückbleiben; die Süssigkeitenorgien; der Konsumrausch nach stressreichen Arbeitswochen – der Möglichkeiten, sich direkt oder indirekt zu schädigen, gibt es viele.
In meinen Ausbildungskursen spreche ich manchmal über eine von Sigmund Freuds umstrittenen Trieb-Theorien, nämlich dass wir Menschen nicht nur mit einem „Eros“ – einem Lebenstrieb – gesegnet seien. Wobei „Eros“ für Freud nicht nur Erotik und Sexualität bedeutete, sondern auch Lebenserhaltung, Freude, Selbstschutz und Selbstfürsorge sowie alle Handlungsmotive, die lebensschaffend und lebenserhaltend sind. Nach Freud verfügen wir auch über einen „Thanatos“ – einen Todestrieb, bei dem (Selbst-)Vernichtung, (Selbst-)Schädigung und „Böses tun“ im Zentrum stehen.
Anschließend erzähle ich zum Beispiel, dass ich selbst, als ich noch rauchte, ideologisch mein Rauchen so gerechtfertigt habe: „Raucher sind einfach die interessanteren Menschen.“ Und äußere die Vermutung, dass zu den beliebtesten Selbstbeschädigungen diejenigen zählen, die sozial integrativ sind oder zumindest sozial anerkannt werden: Zu viel arbeiten, sich zu viel um Bedürftige kümmern sowie einige der oben genannten Alltags-Selbstschädigungen können dazu dienen, in einer Gruppe von Gleichgesinnten anerkannt zu sein.
Dann gebe ich den KollegInnen als Kleingruppenarbeit auf, darüber zu sprechen, was sie selbst tun, um sich „zugrunde zu richten“. Diese Übertreibung und das gemeinsame Lachen lassen viele befreit manche eigenen – ansonsten verschämt verschwiegenen – Selbstbeschädigungen äußern. Zumindest die Formen von Selbstverletzungen, die sozial anerkannt sind: zu viel arbeiten, sich von Bedürftigen nicht abgrenzen ...; manche trauen sich auch an die Süßigkeiten-Orgien, das „Glas zu viel“ oder ihr Rauch-Muster ...
Diese gemeinsamen Gespräche über eigene problematische Verhaltensweisen fördern das Verstehen der – häufig sehr viel radikaleren – Verhaltensweisen von traumatisierten Klientinnen.
Selbstverletzung dient der Stressbewältigung
Um welche Art von Stress geht es bei traumatisierten Menschen? Zum einen kann es sich um einen aktuellen, äußeren Stress
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