Trauma
verfügte über einen einzigen Wachmann, der am Empfang im Erdgeschoss postiert war. Ich überlegte, ob ich ihn heraufrufen sollte, damit er mir Rückendeckung geben konnte.
Der Wachmann hieß Vernon Tibbit. Er war achtundsechzig Jahre alt, schmerbäuchig und kurzsichtig, und er trug keine Waffe. Seine Aufgabe bestand im Grunde darin, Besuchern den Weg zu weisen, Patienten im Rollstuhl zu helfen, Kaffee für die Dame am Empfang zu holen und seine Dienstmarke zu polieren.
Ich wollte nicht, dass Vernon ums Leben kam und die Empfangsdame dann niemanden mehr hatte, der ihr Kaffee besorgen konnte.
Selbst wenn Konrad Beezo darauf verzichtete, mit einem Panzer durch die Mauern des Krankenhauses zu brechen, kam er bestimmt mit einer furchterregenden Waffe. Jedenfalls hatte ich den deutlichen Eindruck, dass er nirgendwo ohne Schießeisen hinging.
Ich hingegen hatte – dummerweise – keine Pistole, kein Messer, keinen Knüppel. Ich hatte noch nicht mal eine Papierschleuder, wie wir sie in der Schule benutzt hatten.
Als mir das Sturmgewehr einfiel, das ich Beezo abgenommen hatte und das nun im Heck unseres Wagens lag, lief mir ein Schauder über den Rücken. Beezo hatte im Wald das Magazin gewechselt und das neue bestimmt noch nicht völlig geleert. Einen Moment lang erlag ich einer dämlichen Machofantasie
und sah mich als Rambo, bloß noch wesentlich muskulöser als Sylvester Stallone.
Dann wurde mir klar, dass ich nicht durchs Krankenhaus stürmen und fröhlich mit einem Sturmgewehr herumballern konnte. Zum einen gehörte ich nicht zum Personal, und zum anderen war die Besuchszeit vorüber.
Ich hatte Angst, erschossen zu werden, ich machte mir Sorgen um die in den Wehen liegende Lorrie, um mein ungeborenes Kind und um mein schmerzendes linkes Bein, das inzwischen so beansprucht worden war, dass es mir womöglich im entscheidenden Augenblick den Dienst versagte. Außerdem störten mich meine Krankenhausklamotten. Ich fühlte mich einfach nicht wohl darin.
Nachdem ich die von Gummibändern gehaltenen Überzieher abgestreift hatte, die meine Schuhe schützten, ging es mir auch nicht viel besser. So, wie ich aussah, konnte ich wunderbar auf eine Kostümparty gehen.
Offenbar war Halloween dieses Jahr neun Monate zu früh gekommen. Jeden Augenblick konnte ein wahnsinniger Clown auftauchen, ohne Kostüm, aber dennoch ungeheuer gruselig.
Ding!
Ich schluckte meinen Adamsapfel, der daraufhin in meinem Magen herumkullerte.
Nach dem Glockenschlag kam mir der Flur noch stiller vor als bisher. Es war die mittägliche Stille einer staubigen Straße in einer kleinen Westernstadt, deren Bürger allesamt in Deckung gegangen waren, weil ein Rudel Revolverhelden nahte.
Statt eines Revolverhelden kamen Dad, Mom und Oma aus dem Aufzug.
Ich war perplex, dass sie es so schnell hergeschafft hatten, viel früher, als ich sie erwartet hatte. Ihre Gegenwart baute mich auf und gab mir neuen Mut.
Als sie winkend auf mich zukamen, ging ich ihnen spontan entgegen, um sie stürmisch zu umarmen.
Dann wurde mir bewusst, dass all die Menschen, die ich am meisten liebte – Mom, Dad, Oma, Lorrie und mein Baby – am selben Ort versammelt waren. Beezo konnte sie alle bei einem einzigen Amoklauf auslöschen!
39
Wenn Oma im Winter ins Freie musste, trug sie grundsätzlich den ganzen Körper einhüllende Schneeanzüge, die sie selbst aus gefüttertem Stoff nähte. Da sie kaltes Wetter überhaupt nicht leiden konnte, war sie der Meinung, in einem früheren Leben sei sie Hawaiianerin gewesen. Gelegentlich hatte sie herrliche Träume, in denen sie Muschelketten und einen Grasrock trug und am Fuß eines Vulkans Hula tanzte.
Gemeinsam mit allen Bewohnern ihres Dorfs war sie später bei einem Vulkanausbruch ums Leben gekommen. Man hätte meinen können, sie habe deshalb eher eine Abneigung gegen Feuer als gegen Kälte. Sie nahm jedoch an, in einem anderen, nicht so weit zurückliegenden Vorleben sei sie eine Eskimofrau gewesen, die samt ihrem Hundeschlitten in einem heftigen Blizzard zugrunde gegangen sei, weil sie den Weg zurück ins Iglu nicht mehr hatten finden können.
In einem bauschigen weißen Schneeanzug mit eng anliegender Kapuze und bis zum Kinn hochgezogenem Reißverschluss, sodass nur das Gesicht herausschaute, watschelte Oma auf mich zu. Die Arme hatte sie weit ausgebreitet, um mich an sich zu drücken. Ich konnte nicht entscheiden, ob sie mehr wie eine fürs Schneemannbauen ausgerüstete Dreijährige oder wie der Michelinmann
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