Trauma
Fingern der rechten Hand zu. Es war eine Geste, wie sie im Allgemeinen von Großmüttern verwendet und von dem Ausdruck Duzi-duzi begleitet wurde.
»Du siehst gut aus«, sagte ich.
»Ich fühle mich auch gut«, erwiderte Punchinello.
»Kaum zu glauben, dass es schon neun Jahre her ist.«
»Für dich vielleicht. Mir kommt es wie hundert Jahre vor.«
Ich fand es schwer zu glauben, dass er keinerlei Groll gegen uns hegte. Schließlich war er ein Beezo und daher mit Missgunst und Verbitterung getränkt. Dennoch konnte ich in seiner Stimme keinerlei Feindseligkeit entdecken.
»Tja«, sagte ich so dahin, »hier drin hat man wahrscheinlich eine Menge Zeit.«
»Die hab ich gut genutzt. Ich habe ein Fernstudium in Jura
abgeschlossen. Da ich kriminell bin, wird man mich allerdings leider nie als Anwalt zulassen.«
»Ein Jurastudium! Ist ja toll.«
»Ich habe für mich und andere Häftlinge schon Rechtsmittel eingelegt. Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie viele der Insassen zu Unrecht verurteilt wurden.«
»Etwa alle?«, riet Lorrie.
»Fast alle, ja«, bestätigte Punchinello ohne jede Spur von Ironie. »Manchmal ist es schwer, nicht zu verzweifeln, weil es so viel Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft gibt.«
»Es gibt immer Kuchen«, sagte ich. Dann wurde mir klar, dass Punchinello den Lieblingsspruch meines Vaters noch nie gehört hatte und deshalb wahrscheinlich glaubte, ich würde Blödsinn schwafeln.
Glücklicherweise nahm er meinen verwirrenden Kommentar völlig locker. »Also, natürlich mag ich auch Kuchen, aber ich hätte lieber Gerechtigkeit. Neben meinem Jurastudium habe ich auch fließend Deutsch sprechen gelernt, weil das die Sprache der Gerechtigkeit ist.«
»Wieso ist Deutsch die Sprache der Gerechtigkeit?«, wollte Lorrie wissen.
»Das weiß ich eigentlich auch nicht. Ich hab mal einen alten Film über den Zweiten Weltkrieg gesehen, in dem irgendein Schauspieler das gesagt hat. Damals hab ich den Sinn verstanden. « Er sagte etwas zu Lorrie, das wie Deutsch klang, dann übersetzte er: »Du bist wunderschön heute Morgen.«
»Und du warst schon immer ein Charmeur«, erwiderte sie.
Er grinste und zwinkerte ihr zu. »Außerdem habe ich auch noch fließend Norwegisch und Schwedisch sprechen gelernt.«
»Ich hab noch nie jemanden kennengelernt, der Norwegisch und Schwedisch gelernt hat«, sagte Lorrie.
»Tja, ich dachte, es wäre höflich, die Leutchen in ihrer eigenen
Sprache anzureden, wenn ich den Nobelpreis in Empfang nehme.«
Da er das offenbar todernst meinte, fragte ich: »Den Nobelpreis? In welcher Kategorie?«
»Das habe ich noch nicht entschieden. Vielleicht den Friedensnobelpreis, vielleicht auch den für Literatur.«
»Ganz schön ehrgeizig«, meinte Lorrie beifällig.
»Ich arbeite an einem Roman. Die Hälfte der Typen hier drin behaupten, sie arbeiten an einem Roman, aber ich tue das wirklich. «
»Und ich hab mir überlegt, ob ich ein Sachbuch schreiben soll«, verriet ich. »Irgendwas Biographisches.«
»Bin jetzt beim zweiunddreißigsten Kapitel«, schwärmte Punchinello. »Mein Protagonist hat gerade erfahren, wie abgrundtief böse der Trapezkünstler in Wirklichkeit ist.« Er sagte etwas, was sich eventuell wie Norwegisch oder Schwedisch anhörte, dann übersetzte er: »Die Demut, mit der ich diesen Preis annehme, kommt der Weisheit Ihrer Entscheidung gleich, ihn mir zu verleihen.«
»Das wird sie zu Tränen rühren«, sagte Lorrie voraus.
Obwohl Punchinello so wahnsinnig wie mordlüstern war, beeindruckten mich seine offenkundigen Leistungen. »Jura studieren, Deutsch, Norwegisch und Schwedisch lernen, einen Roman schreiben … also, ich bräuchte wesentlich länger als neun Jahre, um das alles zu tun.«
»Das Geheimnis ist – ich kann meine Zeit viel besser nutzen und meine Energie viel effizienter konzentrieren, seit ich nicht mehr von meinen Hoden abgelenkt bin.«
Ich hatte erwartet, dass wir früher oder später auf dieses Thema zu sprechen kamen. »Die Sache tut mir leid«, sagte ich, »aber du hast mir wirklich keine Wahl gelassen.«
Mit einer lässigen Handbewegung tat er seinen Verlust ab, als
hätte der keinerlei Bedeutung. »Jeder von uns hat Schuld auf sich geladen. Was geschehen ist, das ist geschehen. Ich lebe nicht in der Vergangenheit, ich lebe für die Zukunft.«
»An kalten Tagen hinke ich«, sagte ich.
Er wackelte mit dem erhobenen Zeigefinger. Die Kette, mit der seine Hand an den Tisch gefesselt war, rasselte. »Sei nicht so wehleidig.
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