Trauma
vierzig. Und nicht für immer, nur, solange es fair ist. Wenn man hier drin kein Geld hat, ist das Leben die reine Hölle.«
»Wenn wir dir erklärt haben, weshalb wir hier sind«, sagte ich, »wirst du verstehen, wieso wir dir kein Geld geben können. Aber wir können auf jeden Fall dafür sorgen, dass jemand Drittes dir regelmäßig etwas schickt, wenn wir darüber alle Stillschweigen bewahren.«
Punchinellos Miene hellte sich auf. »Mensch, das wäre toll. Während man Constance Hammersmith liest, braucht man einfach einen Schokoriegel.«
Der entstellte, verhüllte Detektiv in den Büchern der Autorin hat eine Leidenschaft für Schokolade. Und für das Cembalo.
»Ein Cembalo können wir dir aber nicht besorgen«, sagte ich vorsorglich.
»Kein Problem. Ich hab sowieso keine musikalische Begabung. Allein schon das, was wir vereinbart haben, würde einen Riesenunterschied machen. Das Leben hier drin ist in allen Bereichen so … reduziert. Es ist nicht richtig, wenn man gezwungen wird, mit so vielen Einschränkungen und so wenig Vergnügungen zu leben. So, wie man mich behandelt, würde man meinen, ich hätte tausend Menschen umgebracht.«
»Nun ja, ein paar waren es schon«, erinnerte Lorrie ihn.
»Aber keine tausend «, maulte er. »Und was die alte Frau betrifft, die ist zufällig vom Turm des Gerichtsgebäudes erschlagen worden. Ich hatte überhaupt nicht vor, sie umzubringen. Eine gerechte Bestrafung sollte im Verhältnis zum jeweiligen Verbrechen stehen.«
»Schön wär’s«, kommentierte ich.
Interessiert beugte Punchinello sich vor. Seine Ketten klirrten, als er auf dem Tisch die Hände faltete. »Also, jetzt brenne ich aber vor Neugier«, sagte er. »Was hat euch hergeführt?«
»Syndaktylie«, erwiderte ich.
55
Syndaktylie.
Er zuckte bei dem Wort zusammen, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Seine Gefängnisblässe ging von Creme zu Milch zu Kreide über.
»Woher weißt du das?«, fragte er.
»Du wurdest mit fünf zusammengewachsenen Zehen am linken Fuß geboren«, sagte ich.
»Das hat euch dieser Bastard verraten, stimmt’s?«
»Nein«, sagte Lorrie, »von deiner Syndaktylie haben wir erst vor einer Woche erfahren.«
»An deiner linken Hand waren drei Finger zusammengewachsen«, fuhr ich fort.
Punchinello hob beide Hände und spreizte die Finger. Es waren schöne, wohlgeformte Hände, die momentan allerdings heftig zitterten.
»Nur die Haut war zusammengewachsen, nicht die Knochen«, sagte er. »Trotzdem hat er mir erklärt, man könnte nichts dagegen tun, ich müsste einfach damit leben.«
In seine Augen stiegen Tränen, die er schweigend vergoss. Von tiefem Kummer überwältigt, schlug er die Hände vors Gesicht.
Ich warf Lorrie einen Blick zu. Sie schüttelte den Kopf.
Wir ließen ihm Zeit. Er brauchte einige Minuten.
Der Himmel hinter den Fenstern war noch dunkler geworden, als hätte ein himmlischer Redakteur den Tag von drei Akten auf zwei verkürzt und dabei den Nachmittag gestrichen, sodass der Morgen direkt in die Dämmerung überging.
Natürlich hatte ich nicht wissen können, wie Punchinello sich verhalten würde, wenn wir ihn auf dieses Geheimnis ansprachen, mir aber doch allerhand Reaktionen ausgemalt. Dieser Jammer war nicht dabei gewesen. Sein Anblick machte mich betroffen.
Als er wieder sprechen konnte, hob er das tränenüberströmte Gesicht. »Der große Beezo … er hat mir gesagt, als Clown hätte ich einen natürlichen Vorteil, wenn ich mit den fünf zusammengewachsenen Zehen an einem Fuß nur humpeln könnte. Mein komischer Gang wäre dann authentisch, hat er behauptet.«
Der Wärter am Beobachtungsfenster betrachtete Punchinello mit verwunderter Miene. Zweifellos war er verblüfft, einen skrupellosen Mörder weinen zu sehen.
»Meinen Fuß konnte man nicht sehen, bloß dass ich irgendwie komisch ging. Aber die Hand war sichtbar. Ich konnte sie ja nicht immer in die Tasche stecken.«
»So hässlich wäre die doch bestimmt nicht gewesen«, tröstete ich ihn unwillkürlich, »nur anders … und verdammt unpraktisch. «
»Ach, ich habe sie schon hässlich gefunden«, sagte er. »Ich habe sie gehasst. Meine Mutter, die war vollkommen. Der große Beezo hat mir Fotos von ihr gezeigt, viele Fotos. Meine Mutter war vollkommen … ich aber nicht.«
Ich dachte an meine eigene Mutter. Obwohl sie gut aussieht, kann von körperlicher Vollkommenheit nicht die Rede sein. Ihr gutes, großzügiges Herz hingegen ist vollkommen und mehr wert als aller Glanz von
Weitere Kostenlose Bücher