Traumfabrik Harvard
selbständigen Insitutionen und einer durchgängigen Orientierung an bürgerschaftlichen Werten und der
Wohlfahrt des Gemeinwesens einhergeht. Das führt zu komischen Verwerfungen und Paradoxien. Zugleich aber setzt das Chaos Entwicklungspotenziale
frei, wie sie geplante, zentral koordinierte Systeme nie zu mobilisieren vermögen. Alternativ bietet sich eine historische
Verortung des
exceptionalism
an. Viele, wenn nicht die meisten Studien über amerikanische Hochschulen leiten deren charakteristische Merkmale und Orientierungen
aus religiösen Wurzeln, den kulturellen Traditionen unterschiedlicher Einwanderergruppen und einer besonderen Konstellation
sozialer und wirtschaftlicher Interessenkonflikte im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ab: Dem Aufbau aller Bildungseinrichtungen
aus lokalen Gemeinden und Verbänden, der bunten Schar religiös gefärbter, idiosynkratischer |38| Einrichtungen, der Abspaltung der
professional education
vom College oder dem enormen Stellenwert von
leadership
und sportlichen Aktivitäten. Beide Ansätze, der phänomenologische und der historische, verhelfen uns zu einer Fülle interessanter
Einsichten in die hohe Pfadabhängigkeit der Hochschulentwicklung in den USA. Ihre Ergebnisse sind plausibel – aber nicht gerade
überraschend. Eine wirklich befriedigende Antwort auf die Frage nach dem
exceptionalism
im amerikanischen Hochschulwesen liefern sie nicht.
Zum Glück stoßen wir auf unserer weiteren Suche schon bald auf ein Phänomen, das vermutlich nur ausländischen Beobachtern
als ungewöhnlich auffällt. Um die Hochschulausbildung und vor allem das
undergraduate
college
als sozialer Institution rankt sich eine dichte und äußerst vielschichtige Semantik von Ansprüchen und Hoffnungen, Zielen
und Ritualen. Diese merk-würdige rhetorische Einbettung und die damit einhergehenden symbolischen Praktiken rücken die amerikanische
Hochschulwelt so klar und weit von allen anderen ab, dass man kaum anders kann, als einen
exceptionalism
am Werk zu sehen. Dessen Inhalte widersprechen allerdings manchem gängigen Klischee – vor allem dem, die USA seien ein Land,
dessen Bewohner, von rigorosem Erwerbssinn getrieben und erfüllt, stets nur auf ihren wirtschaftlichen Vorteil aus wären und
in dem nichts zähle, was sich nicht in Geld ausdrücken lässt. In den öffentlichen Debatten und Äußerungen zur Aufgabe von
Hochschulen, in
mission statements
und Umfragen unter Studenten wird man davon kaum etwas wiederfinden. Nicht, dass der ökonomische und soziale Nutzen einer
Hochschulausbildung unbeachtet bliebe oder nicht geschätzt würde. Doch anders als in Europa oder Asien dominiert diese Perspektive
nicht die öffentliche Verständigung über Ziele und Zwecke eines Studiums und über die Rolle und Aufgaben von Hochschulen in
der Gesellschaft.
Das gilt auch und gerade für die Rolle und Wahrnehmung von Elite-Hochschulen. Von allen anderen Hochschultypen unterscheiden
diese sich nämlich in erster Linie darin, wie sie es mit dem
vocational training
, der berufsvorbereitenden Funktion eines Studiums halten. In den oberen Rängen der amerikanischen Hochschulwelt würde man
die Kursvorgaben des britischen Erziehungsministers Johnson auf der fünften Bologna-Folgekonferenz in London 2007 vermutlich
nur mit Kopfschütteln oder hochgezogenen Augenbrauen quittieren: Eine Hochschulausbildung, forderte er, müsse Absolventen
»the right skills to do the job« vermitteln, wie potenzielle Arbeitgeber sie definierten und brauchten. 12 Die am besten angesehenen |39| Hochschulen in den USA halten es lieber mit anderen Tugenden. »Capacity building« und Persönlichkeitsentwicklung der Studenten
bedeuten ihnen mehr als
job skills
und berufspraktische Fertigkeiten. Ihr Ziel ist nicht die Qualifizierung akademischer Facharbeiter, sondern die »education
of leaders«. Selbst wenn sich die große Mehrzahl der US-Hochschulen mit weniger anpruchsvollen Zielen begnügt und amerikanische
College-Studenten mehrheitlich Fächer wählen, die ohne viel Drumherum eine Vermittlung berufsrelevanter Fähigkeiten und Fertigkeiten
versprechen, strahlt die Abneigung gegen eine stromlinienförmige Ausrichtung von Lehre und Studium an den tatsächlichen oder
vermeintlichen Erfordernissen des Arbeitsmarktes weit über den elitären Zirkel der
ivy league
hinaus. Einer Hochschulbildung, darin stimmen amerikanische Wissenschaftler und Studienbewerber, Politiker und Journalisten
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