Traumfabrik Harvard
Mobilität und distributive Gerechtigkeit zu erreichen, begriffen sich
amerikanische Hochschulen bereits als Transmissionsriemen für eine »aristocracy of talent«, wie Jefferson es treffend nannte
.
Zu effektiven Inkubatoren einer sich als »meritokratisch« verstehenden Gesellschaft wurden sie allerdings erst nach 1945,
als der massive Ausbau des öffentlichen Hochschulwesens auch breiteren Bevölkerungskreisen den Zugang zu einer anspruchsvollen,
wissenschaftsgeleiteten Hochschulausbildung ermöglichte.
Seit sie sich dieser Agenda von »opportunity and achievement« gestellt und ihre einstige soziale Exklusivität eingebüßt haben,
spielen Hochschulen im gesellschaftlichen Stoffwechsel der USA eine Rolle, die ihresgleichen anderswo sucht (Trow 1991; 1993).
Indem sie sich zu sozialer Öffnung, kultureller Vielfalt und Chancengleichheit bekennen, wird das unterschiedliche Profil
ihrer Studentenpopulation als politisches Gut gewissermaßen salonfähig. Selbst das starke Prestigegefälle zwischen den Hochschulen |43| erscheint unter dieser Perspektive als legitim, weil es die Spannung zwischen dem Wunsch nach einer breiten Öffnung »für alle«
und einer selektiven Förderung besonders leistungsfähiger Studenten in einer institutionellen Differenzierung auflöst, die
lediglich Leistungsunterschiede widerzuspiegeln vorgibt. Mit dieser »zertifizierten Schichtung« (Brown 2001) untermauern die
Hochschulen das Selbstbild der amerikanischen Gesellschaft, jedem Talent die Chance zu geben, das Beste aus sich zu machen.
Nicht von ungefähr sind Stipendien und Darlehen für bedürftige Studenten eine wichtige Säule der amerikanischen Sozialpolitik:
Wenn der Staat bildungswilligen und strebsamen Bürgern zu einer Collegeausbildung verhilft, steht das für eine ordnungspolitische
Grundüberzeugung und eine bestimmte Denkschule sozialer Gerechtigkeit. Danach darf und kann der Staat zwar Hilfe zur Selbsthilfe
leisten und den Aufbau individueller
capacities
mit Transferleistungen unterstützen. Er sollte aber tunlichst davon absehen, Einkommen umzuverteilen und Bürger mit »unverdienten«
Sozialleistungen auszuhalten.
Ihre Schlüsselrolle im Drehbuch des
American dream
sichert den Hochschulen also nicht nur eine nach europäischen Maßstäben ungewöhnlich hohe Wertschätzung und Aufmerksamkeit,
sondern auch eine großzügige materielle Förderung durch den Staat – sei es direkt im Fall der von den Einzelstaaten betriebenen
öffentlichen Hochschulen oder indirekt in Form der Bundesmittel für Studienbeihilfen und Forschungsvorhaben. Allerdings impliziert
der prominente gesellschaftliche Ort auch problematische Folgen. Eine liegt im rasanten Aufgabenzuwachs der Hochschulen, der
tendenziell überforderte
multiversities
aus ihnen macht (Kerr 2003) und sie immer stärker ins Fadenkreuz externer Ansprüche und Erwartungen rückt, die oft umstritten,
widersprüchlich oder gar unerfüllbar sind – man denke an
affirmative action
für Studienbewerber und Beschäftigte aus unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen oder an die Forderung, jede Hochschule solle
darüber Rechenschaft ablegen, welchen Mehrwert ihre Lehrprogramme vermitteln und was sie für Studierende aus ärmeren Familien,
ethnische Minderheiten, Frauen und andere spezielle Zielgruppen tut. Auch in anderen Ländern sehen sich Hochschulen heute
solchen Wünschen ausgesetzt, doch die Emphase (um nicht zu sagen das Pathos), mit der sie in Amerika vorgetragen, verhandelt
und eingeklagt werden, sucht ihresgleichen. Die Besonderheit will es aber auch, dass sie ihnen dank ihres starken institutionellen
Selbstbewusstseins weit weniger nachgeben, als es Hochschulen in vielen anderen Teilen der Welt zu tun gezwungen sind.
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Exceptionalism
zeigt das amerikanische Hochschulwesen schließlich noch in drei anderen Phänomenen. Da ist zuerst die selbstverständliche
Bereitschaft, Studiengebühren zu bezahlen, obwohl diese inzwischen oft schwindelerregende Höhen erreichen. Angesichts der
eindeutigen Einkommensvorteile von Hochschulabsolventen halten es Amerikaner indes nur für gerecht, Studenten an den Kosten
ihrer Ausbildung zu beteiligen und ein Studium nicht gratis anzubieten. Zweitens ist die Art und Weise, wie Hochschulen in
Amerika nach außen auftreten und intern kommunizieren, einzigartig. Es gehört zum guten Ton, dass sie bei jeder nur denkbaren,
festlichen und weniger feierlichen Gelegenheit auf
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