Traumfabrik Harvard
verleihen und einen gewissen wissenschaftlichen Anspruch führen, ist die Hochschuldichte etwa doppelt so
groß wie in Deutschland. Aber es ist nicht allein wegen der großen Zahl von Einrichtungen, dass es schwer fällt, sich in der
amerikanischen Hochschullandschaft zurechtzufinden. Ein viel größeres Hindernis liegt im dichten Gestrüpp der scheinbar unendlich
vielen verschiedenen Arten und Typen von Hochschulen. Auf der Suche nach einem Wegweiser bietet sich ein historischer Rückblick
auf die Triebkräfte und Grundmuster der US-Hochschulentwicklung an. Viele Besonderheiten, ja Eigentümlichkeiten des Systems
und seiner einzelnen Komponenten lassen sich am besten aus ihrer Genese verstehen, die starke Pfadabhängigkeiten schuf.
Die gegenwärtige Gestalt des amerikanische Hochschulwesens ist im Wesentlichen das Ergebnis einer fortlaufenden additiven
Differenzierung. Neue Aufgaben und Zielgruppen, der Wettbewerb um Studenten, Ressourcen und Reputation, seit 1945 massive
staatliche Hilfen und das enge Zusammenspiel zwischen externen Anforderungen und interner Dynamik haben viele hybride Arten
von Hochschulen entstehen lassen, so dass die Landkarte heute einem Palimpsest gleicht. Eine Flurbereinigung, wie sie nach
1990 in England erfolgt ist, hat es in den USA nie gegeben. Das zerklüftete Machtgefüge in der Hochschullandschaft, die Koexistenz
staatlicher und privater Hochschulen und die dominante Rolle des Marktes haben das stets verhindert. Selbst wenn der Staat
die notwendigen materiellen und rechtlichen Mittel für einen solchen Durchgriff besessen hätte, wäre ein solcher Schnitt mit
dem historisch gewachsenen ordnungspolitischen Grundverständnis von den Aufgaben und Formen der Hochschulbildung unvereinbar
gewesen.
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|48| Am Anfang war Harvard
Die ersten amerikanischen Hochschulen, die
Colonial Colleges
aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert, waren Produkte der Glaubenskriege in Europa und religiösen Eifers, winzige Bibelschulen
für die Aubildung von Geistlichen für die zersplitterten Gemeinden in der Neuen Welt. Die Pfarrer sollten für die seelsorgerischen
und administrativen Bedürfnisse der puritanischen Siedler oder des anglikanischen Establishments sorgen und mit biblischen
Lehren zugleich auch der christlichen Zivilisation im rauen und unwirtlichen Neuengland aufhelfen. Selten zählten diese Anstalten
mehr als ein Dutzend Studenten. Sie wurden in der Auslegung der Heiligen Schrift geschult, aber auch in solchen Kenntnissen
und Künsten unterwiesen, die ein gestandener Pfarrer zu beherrschen hatte. Außerhalb der Theologie und dem mittelalterlichen
Trivium
– Grammatik, Logik und Rhetorik – waren das die alten Sprachen, ein wenig Arithmetik und die drei Gebiete der aristotelischen
Philosophie. Für die anderen beiden »höheren Fakultäten« der europäischen Universität, Medizin und Jura, war in den frühen
Colleges genauso wenig Platz wie für wissenschaftliche Arbeit nach heutigem Verständnis oder gar für Forschung. Noch bis weit
in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurden Ärzte und Juristen in Amerika mehrheitlich in eigenständigen
medical schools
und
law schools
ausgebildet. Selbst dort, wo diese einem College zugeordnet waren, pflegten sie ihre Eigenständigkeit. Die Colleges wiederum
behielten ihre religiöse Fundierung selbst dann noch bei, als sie sich allmählich für Sprößlinge aus den oberen sozialen Schichten
öffneten und deren Ausbildung mit Anleihen am Programm der schottischen Aufklärung würzten. Zutritt fanden stets nur Protestanten.
Bis 1850, als die ersten Frauen-Colleges gegründet wurden, blieben sie zudem, von einigen wenigen koedukativen Einrichtungen
wie Oberlin oder Antioch abgesehen, eine reine Männerdomäne. Sklaven, Katholiken und Juden mussten draußen bleiben.
Harvard und Yale, die beiden ältesten amerikanischen Hochschulen, sind Prototypen für diese Art von Einrichtungen. Harvard
wurde 1636, 18 Jahre nach Ankunft der Pilgerväter, von der Massachussetts Bay Company gegründet, weil die Gemeinden nach dem
Ableben der aus England gekommenen Pfarrer nicht mit einer »illiterate ministry« zurückbleiben sollten. Yale entstand 65 Jahre
später (1701) und ein paar Dutzend Meilen südlicher. Federführend waren hier ein Pfarrer und ein paar fromme Gleichgesinnte,
die mit einer strengen Erziehungsanstalt den ihrer Ansicht |49| nach zu lockeren Bostoner Sitten
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