Traumfabrik Harvard
beruht.
Damit waren alle Bedingungen erfüllt, dass Hochschulen zu Schlüsselinstitutionen der Wissensgesellschaft werden und ihr Aufgabenspekturm
immer weiter ausdehnen konnten. Die starke Wechselwirkung zwischen ihrem institutionellen Interesse an Wachstum und Einflussnahme
einerseits und der steigenden Nachfrage von immer mehr statussuchenden Berufsgruppen nach »akademischen Attesten« andererseits
setzte eine Zertifizierungsdynamik in Gang, deren Ende noch nicht abzusehen ist. So erfordern heute fast alle Berufe im Erziehungs-
und Gesundheitswesen ein Hochschulstudium. Der zunächst belächelte MBA hat sich zur unverzichtbaren Eingangsqualifikation
für jede halbwegs anspruchsvolle Tätigkeit in der privaten Wirtschaft und öffentlichen Verwaltung gemausert. Selbst Maler
und Bildhauer tun gut daran, ihr Talent mit dem MFA-Titel (
Master of Fine
Arts
) einer angesehenen
School of Art
zu veredeln, wenn sie auf dem Kunstmarkt Erfolg haben wollen. Vorläufiger Höhepunkt dieser akademischen Aufrüstungsspirale
sind die sogenannten »professional Ph.D.« – Doktortitel, die explizit nicht für Forschungsleistungen, sondern auf Grund von
praktischen Beiträgen zur Weiterentwicklung eines Tätigkeitsfeldes verliehen werden.
Die Hegemonie in der
professional education
zu erlangen war für die amerikanischen Hochschulen auch deshalb so wichtig, weil sie im Unterschied zu ihren europäischen
Schwestern und Vorbildern niemals Staatsdiener ausbildeten oder vom Staat definierte Aufgaben wahrnahmen. Dank ihrer Offenheit
gegenüber der Berufswelt und ihrer pragmatischen Außenorientierung erschlossen sie sich ein schier unerschöpfliches Geschäftsfeld,
erkauften sich das aber mit dem Risiko, über die Inhalte und Formen ihrer Arbeit nicht mehr allein, sondern nur im engen Zusammenspiel
mit der Berufspraxis befinden zu können. Das ist der Grund, warum die
professional
education
in den USA als besonders anfällig für Qualitätsprobleme gilt. Eine Tendenz zur »Balkanisierung« von Standards ist nicht zu
übersehen. Seit mehr als hundert Jahren schon sorgt das für latenten Unmut und für Spannungen innerhalb der akademischen Welt
und zwischen den verschiedenen
schools
und
departments
der Universitäten. Weil es nicht am Staat ist zu entscheiden, ob eine Studienrichtung an eine Universität, eine Fachhochschule
oder eine Fachschule gehört, muss jede Hochschule selber wissen, wie sie es damit halten will. So kommt es, dass Interessenkonflikte
zwischen |60| verschiedenen Abteilungen des Hochschulausbildungssystems, staatlichen Instanzen und der Berufswelt in den USA als ein »Streit
der Fakultäten« erscheinen, als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Wissenschaftskulturen und Institutionen darüber,
was an eine Hochschule gehört und was nicht und welche Elemente eine wissenschaftliche Qualifikation für ein bestimmtes Berufsfeld
umfassen sollte.
Blickt man auf die Liste immer wiederkehrender Themen für derartige Konflikte, zeigen sich weitere bemerkenswerte nationale
Unterschiede: So ist die Ausbildung von (leitenden) Krankenschwestern und Physiotherapeuten in den USA, anders als in Deutschland,
schon seit langem »hochschulfähig«. Umgekehrt ist eine Hochschulausbildung für den öffentlichen Dienst, wie sie in Deutschland
Tradition hat, in den USA unbekannt und tendenziell auch unvorstellbar, wenn man vom Sonderfall der Militär- und Polizeiakademien
einmal absieht. Und während deutsche Lehrer für das Staatsexamen einen gewissen Anteil erziehungswissenschaftlicher Studien
nachweisen müssen, haben sich die Staaten der USA erst kürzlich darauf einigen können, dass künftig alle Lehrer an öffentlichen
Schulen wenigstens einen Bachelorgrad haben sollten, aber nur ganz wenige verlangen von ihnen darüber hinaus auch ein pädagogisches
Begleit- oder Zusatzstudium.
60
68
60
68
false
Strukturmerkmale der American University
Bis zu solchen Debatten über Zuschnitt und Anspruch, Reichweite und Intensität einer Hochschulausbildung mussten das traditionelle
amerikanische College und die sich darum gruppierenden
professional schools
einen weiten Weg zurücklegen. Seit den Humboldt’schen Reformen huldigt man in Deutschland einem Primat der Forschung und der
Einheit von Forschung und Lehre als konstitutiven Merkmalen einer Universität. Doch diese Formel bot kein Patentrezept für
die Überwindung der doppelten Orientierungskrise der amerikanischen
Weitere Kostenlose Bücher