Traumfabrik Harvard
zwei
konkurrierenden Typen von Hochschulen zerrieben werden, hier Forschungsuniversitäten und dort Berufsakademien? Oder konnte
es in diesem Zweifrontenkrieg eine neue Aufgabe, Gestalt und Legitimität finden?
Vordergründig ging es bei dieser Ortsbestimmung um Prestigegeplänkel und institutionelle Empfindlichkeiten. Dahinter standen
allerdings ernsthafte Fragen: Wie sollte sich das College als soziale Institution zu der in Schwung kommenden »Verwissenschaftlichung
der Lebensführung« verhalten, wie mit dem Bedarf ständig neuer
professions
und Gruppen von »Experten« an speziellen Kompetenzen umgehen und welche Aufgaben in der Kultur der industriellen Welt wahrnehmen?
Mit klassischer Gelehrsamkeit, Charakterbildung und der Pflege kultureller Fertigkeiten schien es jedenfalls nicht mehr getan.
Aber ob und wie sich Wünsche nach mehr
practical learning
auf der einen und wissenschaftliche Ansprüche auf der anderen Seite miteinander vereinbaren oder sogar produktiv verbinden
ließen, war alles andere als ausgemacht. Im Prinzip gab es dafür zwei Optionen: Entweder man unterwarf alle Studenten einer
obligatorischen wissenschaftspropädeutischen Grundausbildung, die dem berufsorientierten Studium vorausging und dem Ausbildungsgang
ein wissenschaftliches Gütesiegel verlieh. Oder man machte einzelne Berufsfelder zum direkten Gegenstand empirischer Beobachtung,
wissenschaftlicher Analyse und Ausbildung, so dass sich Forschungs- und Trainingsaspekte wechselseitig ergänzen und befruchten
konnten, wie es etwa in der Medizin der Fall ist.
|58| Tatsächlich beschritten amerikanische Hochschulen beide Wege gleichzeitig: Auf der einen Seite schärften sie mit modernisierten
Curricula für die Collegestufe, mit Forschungsaktivitäten und höheren Berufungsanforderungen für Professoren ihr wissenschaftliches
Profil. Auf der anderen Seite trieben sie die Akademisierung der Berufswelt mit einer Fülle neuer Angebote zur
professional education
weit voran. Damit veränderten sich ihre Strukturen und ihre Organisation sehr nachhaltig, wurden weitaus komplexer und heterogener.
Doch obwohl dieser Prozess an viele knifflige und umstrittene Fragen rührte (etwa die nach der richtigen Balance zwischen
einem Kanon und wissenschaftlicher Öffnung, allgemeiner Bildung und der Vermittlung spezieller Fachkenntnisse) und scharfe
Differenzen zwischen Traditionalisten und hemdsärmligen Pragmatikern zu Tage traten, kam es nicht zu einem erbitterten Kulturkampf
zwischen den verschiedenen Lagern und Denkschulen. Ein Grund dafür war sicherlich, dass es in Amerika noch keine althergebrachten
Privilegien zu verteidigen gab wie in Deutschland, wo sich die Universitäten zu derselben Zeit mit allen Mitteln der unterständischen
Konkurrenz durch technische Akademien und Lehrerbildungsanstalten zu erwehren suchten. Um die wärmende Gunst des Staates zu
streiten lohnte sich für die US-Hochschulen sowieso nicht, denn obwohl dieser im Morrill Act ein deutliches Interesse an Hochschulen
gezeigt hatte, besaß er in all den Fragen, um die es jetzt ging, keine eigenen Aktien oder ordnungspolitische Interessen.
Bei der Lösung ihrer Markt- und Identitätskrise blieben die amerikanischen Hochschulen daher ganz auf sich allein gestellt.
Unter den gegebenen Umständen konnten sie weder auf ein Machtwort des Staates noch auf die Hilfe starker gesellschaftlicher
Interessengruppen rechnen. Trotzdem und vielleicht gerade deshalb konnte sich das Ergebnis sehen lassen. Immerhin gelang es
ihnen, den Berufsakademien mehr als Paroli zu bieten und die Oberhand auf dem Markt der
professional education
zu gewinnen, den sie bereits so gut wie verloren hatten. Die Inkorporation der
professional
schools
in die Hochschulen brachte den USA ein in der Welt einzigartiges, ebenso flexibles wie effektives Arrangement zur Beglaubigung
(
credentialling
) berufsqualifizierender Kompetenzen, das auf wissenschaftliche Standards und Leistungskriterien abstellt. Die Hochschulen
spielen darin in gleich doppelter Weise eine zentrale Rolle, nämlich als soziale »gatekeepers« und als Lieferanten legitimer,
gesellschaftlich anerkannter Expertise (Geiger 2004; Meyer 1977). Zwar nicht de iure, aber de facto wurde eine
professional education
an einer Hochschule zum notwendigen Berechtigungsnachweis |59| für den Zugang zu bestimmten Berufen, deren hohes Prestige nicht zuletzt auf der langwierigen, anspruchsvollen und teuren
Vorbildung
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