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Traumfabrik Harvard

Titel: Traumfabrik Harvard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schreiterer
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Hochschule in den 1860er Jahren. Nur einige wenige konnten
     sie sich zu Eigen machen. Wieder war es Harvard, das auf dem amerikanischen Sonderweg voranging und anderen die Richtung wies.
     Unter der ebenso tatkräftigen wie visionären Führung des Chemikers Charles W. Eliot, ihrem Präsidenten von 1869 bis 1909,
     erhielt die Hochschule eine neue Gestalt – mit neuen Aufgaben für das College, flexibleren Curricula und Lehrformen sowie
     neuen organisatorischen Prinzipien |61| für Studium und Lehre. Diese Reformprojekte verhalfen Harvard zu Strukturmerkmalen, die für die
American university
typisch werden sollten.
    Schon in seiner Antrittsrede hatte Eliot angekündigt, das kanonische Curriculum abschaffen und die Collegeausbildung an die
     Bedürfnisse der modernen Zeiten anpassen zu wollen. Ging es dabei auf den ersten Blick lediglich um eine Erweiterung um zeitgemäße
     Inhalte, taten sich dahinter schwierige konzeptionelle Fragen wie die nach der besten Mischung zwischen nützlichen Fertigkeiten,
     nutzlosen wissenschaftlichen Kenntnissen und kulturellen Kompetenzen auf, deren Lösung einer Quadratur des Kreises zu gleichen
     schien. Mit sogenannten »electives«, Wahlfächern, drückte sich Harvard zwar um eine verbindliche Antwort in der Sache, schaffte
     es aber dennoch, den Knoten zu durchschlagen und einen riesigen Schritt nach vorne zu gehen. Die
electives
waren zunächst nicht mehr als Nischen am Rande des Curriculums, um etwas Raum für bisher vernachlässigte Wissensgebiete und
     Themen zu schaffen. Doch unter einem neuen Studiensystem durften die Studenten des Harvard College seit 1883 selber wählen,
     mit welchen Gebieten sie sich beschäftigen und welche Schwerpunkte sie in ihrem Studium setzen wollten. Dabei mussten sie
     sich allerdings an Vorgaben halten, die eine ausgewogene Mischung zwischen praktischen Themen und abstrakter Bildung gewährleisten
     und einer totalen Beliebigkeit von Studienverläufen vorbeugen sollten. So musste sich jeder 17 ein wenig mit Mathematik und Naturwissenschaften beschäftigen, etwas Literatur, Geschichte und Sprachen studieren, später
     dann auch noch die »Realwissenschaften« des Staats- und Gesellschaftslebens sowie ein in den folgenden Jahrzehnten immer wieder
     umgestaltetes »core curriculum« absolvieren, einen Kern obligatorischer Veranstaltungen für alle Studenten. An die Stelle
     des alten Kanons trat ein Korridor von Wahlpflichtfächern, der von Zeit zu Zeit überprüft und erneuert werden sollte. Aus
     dem Zusammenspiel von Zwang und freier, verständiger Entscheidung, argumentierte Eliot, entstehe ein Mehrwert und etwas Vernünftiges,
     »well rounded individuals« nämlich, die weder engstirnige Scholastiker noch weltfremde Fachidioten wären, sondern gebildet
     und sachkundig, weltoffen und neugierig, an praktischen Dingen interessiert und zupackend – also all das, was man am Ende
     des 19. Jahrhunderts von einem kultivierten jungen Gentleman in der vor Kraft strotzenden Neuen Welt erwarten durfte. So klang
     das Motto der reformierten
liberal arts education
, der viele der besten amerikanischen Colleges und Universitäten noch heute anhängen und die zum Markenzeichen für eine hochwertige,
     anspruchsvolle Hochschulausbildung |62| in Amerika wurde. 18 Unter Eliots Nachfolger Abbott Lawrence Lowell führte Harvard 1909 ein zweites ebenfalls bis heute charakteristisches Strukturmerkmal
     für die
undergraduate education
ein – »concentrations«, die an den meisten anderen Universitäten
major
* heißen und kurz zuvor in Johns Hopkins erstmals erprobt worden waren. So schien die Balance zwischen allgemeiner und fachlicher
     Bildung ausgewogen und die Anschlussfähigkeit der Collegeausbildung optimal gesichert zu sein.
    Aber wie war so etwas möglich, wenn doch gleichzeitig immer deutlicher wurde, dass Hochschulen Geburtshilfe für den wirtschaftlichen
     und gesellschaftlichen Fortschritt leisten sollten? Das Paradox lichtet sich, wenn man die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft
     an den altehrwürdigen Colleges Neuenglands bedenkt. In den Kreisen der »Boston Brahmins« und anderer Eliten, die deren größte
     Klientel stellten, zählten praktisch verwertbare
skills
, technische Fertigkeiten oder in Dollar bezifferbare Erträge eines Studiums nicht sehr viel. Dort galt das College als ein
     sozialer Ort, an dem sich traf, wer zusammengehörte. Es war ein Club, in dem junge Männer lebenslange Freundschaften anbahnen,
     Netzwerke

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