Traumfabrik Harvard
Der Platz und das Ansehen einer Hochschule,
bereits um 1900 sehr wichtig, bemaßen sich nun immer stärker, wenn auch keineswegs ausschließlich und für alle gleichermaßen,
an ihrer wissenschaftlichen Reputation – das heißt aber nichts anderes als an den Forschungsleistungen und am Ruf ihrer Professoren
(Ben-David 1977). Nach der neuen Lesart sollten Universitäten jedenfalls »wissenschaftlich« und Professoren auch oder sogar
in erster Linie Forscher sein. Galten sie erst einmal als wichtigstes Kapital einer Hochschule, war der Weg zum heftig umworbenen
Starprofessor vorgezeichnet. 1883 benannte sich Columbia als erste Hochschule der
ivy
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league
in »
university
« um, weil sie damit einen bestimmten Qualitätsanspruch signalisieren wollte. Während ihr Yale und Harvard auf dem Fuße folgten
(1885 und 1890), ließ sich Princeton damit bis 1896 Zeit. Forschung und Graduiertenausbildung standen auch im Zentrum der
berühmtesten privaten Neugründungen aus den 1890er Jahren, nämlich der vom Eisenbahnmagnaten Leyland Stanford üppig bedachten
Stanford University (1891) in Kalifornien und der vom Ölbaron John D. Rockefeller gestifteten University of Chicago (1892).
Lange Zeit blieb unklar, ob und wenn ja, in welcher Form die
undergraduate
education
in diesen Neugründungen einen Platz finden könnte. Eine so sterile Bildungsschmiede, wie es das traditionelle College nun
einmal war, schien sich mit deren wissenschaftlichen Ansprüchen kaum zu vertragen, ja sogar unvereinbar zu sein. Am Ende konnte
und wollte sich jedoch keine der Forschungsuniversitäten aus dem Wettbewerb um junge Talente ausklinken. Alle privaten
research universities
legten sich jedenfall früher oder später eine »untere Abteilung«, ein College, zu. Für gestandene, altehrwürdige Einrichtungen
stellte sich die Frage erst gar nicht, ob sie die
undergraduate
education
fortführen und sich auf
graduate studies
konzentrieren sollten. Nicht zuletzt wegen der engmaschigen sozialen und kulturellen Netzwerke, in die sie eingebettet waren,
blieben
undergraduates
ihr wichtigstes Kapital. Auch waren längst nicht alle darauf erpicht, ein »höheres Stockwerk« zu bekommen und ihren Professoren
Forschungsleistungen abzuverlangen. Immerhin mussten sie dafür ihr Aufgabenverständnis umkrempeln und vertraute Praktiken
aufgeben, ohne dass sie Kosten und Erträge eines solchen Schrittes voll übersehen konnten. So verzichteten etliche Colleges
auf solch eine wissenschaftliche Veredelung und versuchten stattdessen, im Bereich ihrer Kernkompetenz, der Erziehung von
undergraduates
, mit einem besonderen Profil zu punkten.
Die Forschungsuniversität war indes weder die einzige noch die härteste Herausforderung für das amerikanische Hochschulwesen
im späten 19. Jahrhundert. Viel schwerer wog die explosionsartige Zunahme selbständiger
professional schools
seit den 1880er Jahren. Wer damals in den USA als Arzt, Apotheker oder Anwalt arbeiten wollte, brauchte dafür keine abgeschlossene
Hochschulausbildung. Anders als die kontinentaleuropäischen Universitäten besaßen auch die von den Einzelstaaten gecharterten
Colleges keinerlei gesetzlich verankertes Monopol für die Ausbildung und Lizensierung höherer Staatsdiener, Ärzte oder Juristen.
Nicht einmal gewohnheitsrechtliche Privilegien hatten sie sich dafür sichern können. Die |57| starke Studiennachfrage im Bereich der klassischen Professionen und der Boom eigenständiger kleiner, hochspezialisierter Fachschulen
ohne Anbindung an ein College beziehungsweise an eine
university
bildeten deutliche Warnsignale, dass Colleges überflüssig werden und ihre Klientel verlieren könnten. Viele
professional schools
fragten ihre Studenten bei der Zulassung nicht nach einem Collegeabschluss. Manche wollten nicht einmal wissen, ob sie überhaupt
schon einmal in eine Hochschule hineingerochen hatten. Wenn um 1900 knapp die Hälfte aller Studenten in den
professional fields
selbständige Institute besuchte, mussten sich die Colleges überlegen, wie sie auf diese Herausforderungen reagieren und welche
Rolle sie künftig im Spektrum der
higher education
einnehmen wollten. Zur Bedrohung des herkömmlichen
liberal arts-Kanon
durch Forschung und Wissenschaft gesellte sich also eine zweite, nämlich die wachsende Attraktivität berufsorientierter Studien,
wie sie Ausbildungsstätten zweifelhafter Statur anboten. Würde das College dabei auf der Strecke bleiben und zwischen
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