Traumfabrik Harvard
macht.
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|155| Zulassungsverfahren
Bislang haben uns das Programm und die Gestalt des
undergraduate college
beschäftigt. Sein Platz und seine besondere Rolle in der Gesellschaft der USA hängen aber in mindestens demselben Maße davon
ab, wie der Zugang zu ihm gestaltet wird – wohlgemerkt nicht »geregelt«, weil der Abschluss einer Sekundarschulbildung ja
keine Hochschulzugangsberechtigung beinhaltet und jedes College seine Studenten nach freiem Gutdünken zulassen kann. Dass
dieses Gewohnheitsrecht zu einer Waffe im scharfen Reputations- und Prestigewettbewerb der Hochschulen geworden ist, haben
wir bereits gesehen. »College admissions« beschäftigen die Amerikaner wie kein zweites bildungspolitisches Thema. Es bündelt
die ganze Spannung zwischen Erwartungen und Realität der
higher education
im amerikanischen Gesellschaftsvertrag: In der Tat sind die Zugangschancen zum College als Mobilitätsmaschine und Flaschenhals
auf dem Weg in ein gutes Leben in den
middle classes
sozial unterschiedlich verteilt. Und während die Politiker immer wieder versprechen, das College für alle Amerikaner erschwinglich
zu halten, laufen die Kosten immer weiter aus dem Ruder. Setzen gerade benachteiligte Gruppen nach wie vor große Hoffnungen
in das College, grassiert in den
middle classes
die Angst, den richtigen Zug zu verpassen.
Das Problem von
access and equity
befeuert politische Debatten und viele statistische Studien, weil es Zweifel daran nährt, wie weit die meritokratischen Versprechungen
der amerikanischen Gesellschaft tragen. Zugleich sind Millionen Amerikaner mit einem angestrengten Run aufs College beschäftigt,
der seine Schatten weit über die letzten Schuljahre hinaus nach vorne wirft. Starke Jahrgänge von Highschool-Absolventen haben
die Bewerberzahlen vor allem im Premium-Segment in die Höhe schnellen lassen. Obwohl immer noch 80 Prozent am College ihrer
ersten Wahl landen, geht die »admissions angst« (
Chronicle,
7.3.2008) durchs Land und sorgt für kräftigen Druck im Kessel. Horden von College-Beratern und privaten Pressen, die Schüler
für die standardisierten Zulassungstests zurüsten, sichert sie eine riesige Kundschaft, der jeder gute Tipp teuer ist. Wer
es billiger haben will, kann sich in Broschüren über den besten Weg ins College aufschlauen oder eine DVD mit Übungsaufgaben
kaufen. 71 Während der Buchmarkt laufend mit neuen »Analysen« über die Zulassungspraktiken von Top-Colleges aufwartet, feilen diese
längst daran, den
admission process
so zu gestalten, dass sie ihr Marktsegment bestmöglichst |156| ausschöpfen und ihre Mitbewerber ausstechen können. Im Brennglass der Zulassungspraktiken lassen sich daher Stärken und Verwerfungen
der amerikanischen Hochschulwelt wunderbar studieren – und das soll im Folgenden kurz geschehen.
Wir hatten schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die privaten Elite-Unis bis zum Zweiten Weltkrieg sozial geschlossene Institutionen
waren, in denen sich die Sprösslinge der neuenglischen Oberschicht, Absolventen vornehmer Internate und
prep-schools
, weitgehend unter ihresgleichen bewegten. Es verstand sich von selbst, dass sich nur bestimmte Gruppen bewarben und dass
alle
ivy leagues
antikatholisch und antisemitisch eingestellt waren. 72 In Zahlen gemessen war ihre Selektivität dementsprechend gering; noch in den 1930er Jahren akzeptierte Harvard mehr als die
Hälfte der Bewerber. Erst mit der enormen Ausweitung des öffentlichen Sektors und dem kometengleichen Aufstieg seiner
flagship institutions
nach 1945, die den besten Kandidaten vorbehalten bleiben sollten, ergab sich ein Bedarf an transparenten Zulassungskriterien:
Die Auswahl der Studienbewerber musste nun legitimiert werden, wenn auch nicht gerichtsfest begründet. Seither hatte man seine
individuelle Leistungsfähigkeit in »grades and scores« unter Beweis zu stellen; hohe Punktzahlen wurden zum legitimen Berechtigungsnachweis
für hohen Status und soziale Privilegien (Lemann 1999). Doch die Hochschulen sollten nicht nur die
merits
ihrer Absolventen attestieren, sondern bereits ihre Anfänger auf Grund nachgewiesener
merits
rekrutieren, nachprüfbar und fair. Hochschuleignungstests wie der 1926 vom »College Board« entwickelte SAT (»Scholastic Aptitude
Test«) und sein Konkurrent ACT (»American College Testing Program«) von 1959 waren plötzlich hoch gefragt, weil sie versprachen,
nicht erlerntes Wissen, sondern
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