Traumfabrik Harvard
die allgemeine Denk- und Problemlösungsfähigkeit der Kandidaten zu messen. Die Carnegie- und
Rockefeller-Stiftungen engagierten sich stark für ihre Verfeinerung und flächendeckende Verbreitung, erhofften sie sich davon
doch eine Öffnung der elitären Wagenburg und eine umfassende Demokratisierung der Hochschulausbildung (Gintis/Bowles 1978).
Inwieweit Colleges heute von diesen Tests Gebrauch machen und welche anderen Maßstäbe sie für ihre Auswahlverfahren heranziehen,
ist sehr unterschiedlich. Generell gilt: Eine große Mehrzahl wählt ihre Studenten aus einem Bewerberpool aus. Nach Angaben
des US-Erziehungsministeriums machten 2004/05 lediglich 17,2 Prozent aller Colleges, darunter sehr viele kommerzielle Anbieter,
gar nicht von ihrem Auswahlrecht Gebrauch, sondern praktizierten eine
open admission
. Von den öffentlichen und privaten |157|
non-profit
Colleges verzichteten nur 13,2 beziehungsweise 12,8 Prozent darauf. Allerdings wiesen nur zwölf Prozent der staatlichen und
14,2 Prozent der privaten
non-profit-
Einrichtungen mehr als die Hälfte der Bewerber ab, was sie zu
selective schools
machte. Davon gab es, in absoluten Zahlen, insgesamt 242, 70 öffentliche und 172 private Hochschulen. Jeweils etwa 35 Prozent
der Colleges in beiden Sektoren akzeptierten zwischen 50 und 74,9 Prozent der Bewerber, waren also das, was man »gemäßigt
selektiv« nennt (
Chronicle
2007: 36).
In den letzte zehn Jahren sind die Bewerberzahlen an den gut beleumundeten Hochschulen dramatisch gestiegen. Die Zulassungsquoten
sind im gleichen Maße gefallen, denn die Zahl der Plätze an »Name Brand«-Colleges blieb annähernd konstant – übrigens nicht
zuletzt deshalb, weil zusätzliche Studienplätze den Bau neuer
residential colleges
mit der dazu gehörenden Peripherie an zusätzlichem Personal und Serviceleistungen bedeuten würden und daher sehr teuer sind.
Das Beispiel der Yale University kann diesen allgemeinen Trend gut veranschaulichen: Seit 1969 (Beginn der Koedukation) bietet
das Yale College etwa 5.200 Studenten Platz, pro
class
etwa 1.300. Bezieht man in die Rechnung ein, dass nicht alle Bewerber, die einen Platz angeboten bekommen, diesen auch tatsächlich
annehmen, werden bei einer
yield rate
von 70 Prozent jedes Jahr ungefähr 1.800 Bewerber angenommen. Zwischen 1969 und 2000 erhielt Yale jeweils 9.000– 12.000 Bewerbungen
pro Jahr, so dass die Zulassungsquoten zwischen 18 und 27 Prozent betrugen. Seither haben sich die Bewerberzahlen verdoppelt
– 2007 stiegen sie auf 23.500. Seit 2005 betragen die Zulassungsraten weniger als 10 Prozent. An den übrigen
ivy leagues
und anderen P-Hochschulen sieht die Tendenz ganz ähnlich aus.
Was treibt diesen Prozess voran? Erstens kommen darin demographische Faktoren zum Tragen. Seit 2001 verlassen besonders starke
Jahrgänge – die Kinder der berühmten
baby boomers
– die Highschools. Zweitens trägt dazu auch das Phänomen steigender Erwartungen bei: Eltern, die selber an einer mittelprächtigen
State University oder einem regionalen College ihre Hochschulausbildung erworben haben, wollen in der Regel mehr für ihre
Kinder – sie müssen es höher hinaus schaffen, am besten nach Harvard oder Princeton, weil das Aufstiegsprojekt der Familie
sonst gescheitert wäre. Aus fein austarierten, offiziell meritokratischen Zulassungsmechanismen werden dank dieser Engpässe
»huge engines of anxiety«. 73 Leistungen, die gestern für den Sprung in eine
ivy league
allemal ausreichten, genügen heute längst nicht mehr. Drittens aber hat die Zulassungshysterie auch das |158| Bewerberverhalten verändert. Bewarben sich hoffnungsfrohe Collegeaspiranten bis vor zehn Jahren im Durchschnitt an drei oder
vier Hochschulen – davon eine »safety school« für den unwahrscheinlichen Fall, dass man bei den anderen nicht zum Zuge kommen
konnte –, wollen sie nun auf Nummer sicher gehen und bedenken mehr als zehn Colleges mit ihren Bewerbungen. Traditionelle
»safety schools« wie die Boston University, Tufts oder die NYU sind schon lange keine sicheren Häfen mehr, sondern so hart
umkämpft, wie es die Elite-Unis vor wenigen Jahren waren. Der rasende Wettlauf aufs College hat zugleich massive Rückwirkungen
auf die Schulen: Diejenigen, die beste Platzierungschancen für die besten College versprechen, können sich kaum des Bewerberansturms
erwehren. Das alles schmälert die Zugangschancen für Kinder aus armen Familien, die sich
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