Traumfaenger
Neffen.
»Seid ihr Zwillinge?«, wollte ich wissen und kam mir sofort total blöd vor, denn es war unübersehbar, dass sie es waren.
»Du scheinst nicht die hellste Kerze auf der Torte zu sein«, stellte Lee fest, der bei meiner Frage fassungslos den Kopf geschüttelt hatte. Sein Bruder knuffte ihn in die Seite.
Nachdenklich rieb ich mir den Nacken und zuckte zusammen, als ich einen heftigen Schmerz, ähnlich einer Verspannung spürte. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an Mr. Wangs Griff und die darauffolgende Dunkelheit.
»Was hat euer Onkel mit mir gemacht?«, wollte ich wissen und ließ den Kopf kreisen, um die Muskeln etwas zu lockern.
»Das ist ein sehr schwieriger Griff, der jahrelanger Übung bedarf. Er unterbricht irgendwelche Nervenbahnen und dadurch verliert man das Bewusstsein. Onkel Wang beherrscht ihn aber wirklich gut. Bei mir hat er ihn auch schon einmal eingesetzt, als ich nicht ins Bett wollte«, erklärte Lee grinsend. Ich sah ihn entsetzt an. Machte der kleine Scheißer jetzt wieder nur einen Scherz, oder meinte er das etwa ernst? Mein Blick huschte zum Fenster. Draußen war es immer noch stockdunkel.
»Ist es noch mitten in der Nacht?« Lee nickte kaum merklich und ich wurde langsam aber sicher sauer. Musste man diesem Bengel jedes Wort aus der Nase ziehen?
»Heißt dieses Nicken "Ja", oder hast du dir das Genick gebrochen? Wie spät ist es?«, wollte ich wissen.
Bruce drückte auf einen kleinen Knopf an seiner Digital-Armbanduhr.
»Fast vier Uhr«, antwortete er. Nachdenklich runzelte ich die Stirn. Ich war irgendwann in der Nacht aufgewacht und kurz darauf hatte mich Mr. Wang wieder ausgeknockt. Demnach war ich also nur ein paar Stunden bewusstlos gewesen. Es sei denn ….
»Wie lange war ich weggetreten«, fragte ich hastig und mein Blick huschte zwischen den beiden Jungen hin und her. Nicht auszudenken, wenn ich womöglich einen ganzen Tag verschlafen hatte.
»Nur ein paar Stunden«, sagte Bruce schulterzuckend.
»Du solltest etwas essen«, schlug Lee vor und erhob sich. »Onkel Wang hat dir eine Suppe gekocht. Damit bist du bald wieder auf den Beinen.« Er warf seinem Bruder einen Blick zu und beide Jungen nickten gleichzeitig. Anschließend verließ Lee das Zimmer und ich war allein mit Bruce. Betretenes Schweigen machte sich breit. Bruce beäugte höchst interessiert seine Turnschuhe und spielte dabei an einer Kette herum, die er um den Hals trug, während ich intensiv den Saum meiner Bettwäsche betrachtete.
Schließlich wurde es mir zu dumm und ich sah auf. Mein Blick fiel auf die Kette um seinen Hals. Noch immer spielte er an dem Anhänger herum, der im künstlichen Licht funkelte, wie ein Diamant.
»Was ist das?«, fragte ich um das Schweigen zu brechen und deutete auf das Schmuckstück. Bruce machte sich an dem Verschluss zu schaffen, bis er ihn geöffnet hatte. Anschließend stand er auf und reichte mir die Goldkette.
»Die Träne des Drachen«, erklärte er knapp. Ich ließ die Kette durch meine Finger gleiten und hob die Hand, um mir den Anhänger genauer anzusehen.
»Der ist wunderschön«, bemerkte ich. Das war er wirklich. Er hatte die Form einer Träne und war ungefähr so groß wie mein kleiner Fingernagel. Es schien eine sehr aufwendige Arbeit zu sein, denn die vielen Facetten reflektierten das Licht in allen Farben. »Hat er eine tiefere Bedeutung?«
»Bei den Chinesen schon«, erklärte Bruce. »Fast jedes Kind bekommt eine Träne des Drachen geschenkt. Es soll uns vor bösen Träumen schützen.« Ich holte tief Luft und stieß einen lauten Seufzer aus.
»So etwas könnte ich auch gut gebrauchen«, bemerkte ich und gab ihm die Kette samt Anhänger zurück. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Lee kam herein, gefolgt von Mr. Wang, der eine dampfende Schüssel in Händen hielt. Er stellte die Suppe auf meinen Nachttisch und legte einen Löffel daneben.
»Du musst etwas essen«, sagte er knapp. Ich beäugte ihn argwöhnisch mit zusammengekniffenen Augen.
»Ist das womöglich etwas, das mich wieder einschlafen lässt?«, fragte ich misstrauisch und nickte mit dem Kinn zur Suppenschüssel.
»Nein, es ist nur eine nahrhafte Suppe, mehr nicht«, versprach er. »Dass ich den Griff angewendet habe, um dich am Gehen zu hindern, tut mir leid, aber ich sah keine andere Möglichkeit«, entschuldigte er sich. Ich verzog das Gesicht, doch dann nickte ich. Es hatte ja keinen Zweck auf ihn sauer zu sein. Schließlich brauchte ich ihn, um wieder in den
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