Traumfänger
steckte, aber wenn sie wieder herausgezogen wurden, ähnelten sie wunderbarerweise frischem grünen Stangensellerie.
Sie fanden auch da noch Wasser, wo es wirklich keinerlei Anzeichen für Feuchtigkeit mehr gab.
Manchmal legten sie sich auf die sandige Erde, um das Wasser darunter besser hören zu können, oder sie hielten auf der Suche nach Wasser die Handflächen über den Boden. Sie steckten lange, hohle Rohrgräser in die Erde, saugten am oberen Ende und schufen so Miniaturspringbrunnen. Das Wasser war sandig und hatte eine dunkle Farbe, aber es schmeckte sauber und erfrischend. Die Stammesmitglieder konnten aus den Dunstwolken am Himmel erkennen, ob es in der Ferne Wasser gab. Sie rochen und spürten es sogar in der Luft. Jetzt weiß ich auch, warum bei den Expeditionen ins australische Landesinnere so viele Menschen so bald umkommen: Man braucht das spezielle Wissen eines Ureinwohners, um in dieser Wüste überleben zu können.
Als wir uns einmal Wasser aus einer Felsspalte holten, brachten sie mir bei, wie man sich einem Ort nähert, ohne ihn mit dem menschlichen Geruch zu vergiften und die Tiere abzuschrecken. Denn schließlich war es auch ihr Wasser; die Tiere hatten genauso viel Recht darauf wie die Menschen. Der Stamm bemächtigte sich nie des gesamten Wasservorrats, egal wie knapp unsere Reserven auch sein mochten. An jedem Wasserloch benutzten sie die gleiche Stelle, um zu trinken, und alle Tierarten schienen derselben Regel zu folgen. Nur die Vögel ignorierten diese Zugangsregelung und fühlten sich beim Trinken, Herumplanschen und sorglosen Exkrementieren einfach überall wohl.
Die Stammesmitglieder konnten mit einem Blick auf den Wüstenboden sagen, welche Tiere in der Nähe lebten. Von Kindheit an lernen sie, alles genau zu beobachten, und deshalb erkennen sie sofort die Spuren von irgendwelchen laufenden, hüpfenden oder kriechenden Kreaturen im Sand. Der Anblick der Fußabdrücke der Stammesmitglieder ist ihnen so vertraut, daß sie nicht nur auf der Stelle die zugehörige Person identifizieren können, sondern sie erkennen auch an der Länge der Schritte, ob es diesem Menschen gutgeht oder ob er nur langsam vorankommt, weil er krank ist. Die kleinste Abweichung im Bild der Fußspur kann ihnen verraten, wohin der betreffende Wanderer wahrscheinlich geht. Ihr Wahrnehmungsvermögen ist viel besser ausgeprägt als das von Menschen, die in anderen Kulturen aufgewachsen sind. Ihr Hör-, Seh- und Geruchssinn scheint fast übermenschlich zu sein.
In den Fußabdrücken verbergen sich Vibrationen, die viel mehr verraten als das, was man im Sand sieht.
Später erfuhr ich, daß es Aborigine-Spurensucher gibt, die aus Reifenabdrücken nicht nur das Tempo eines Autos ablesen können, sondern auch das Fabrikat, den Tag und die Uhrzeit, zu der es vorbeifuhr, sowie die Anzahl der Passagiere.
Während der nächsten Tage aßen wir verschiedene Zwiebel- und Knollengewächse und Gemüse, die unter der Erde wuchsen, ähnlich unseren Kartoffeln oder Yamswurzeln. Sie mußten eine Pflanze nicht erst aus dem Boden ziehen, um zu erkennen, ob sie reif war.
Sie ließen einfach ihre Hände über der Pflanze kreisen und sagten: »Diese hier wächst noch, sie ist noch nicht fertig« oder »Ja, diese hier ist soweit, daß sie gebären kann«. Für mich sahen sie alle gleich aus, und nachdem ich mehrere einfach herausgezogen hatte, nur um zuzusehen, wie sie wieder eingepflanzt wurden, beschloß ich, besser zu warten, bis man mir sagte, welche Pflanzen ich nehmen konnte. Sie erklärten mir dieses Phänomen mit derselben Kraft, wie sie ein Wünschelrutengänger einsetzt, eine Fähigkeit, über die nach ihrer Meinung alle Menschen verfügen. Weil die Menschen in unserer Gesellschaft aber nicht ermutigt werden, auf die eigenen, intuitiven Eingaben zu horchen und diese vielmehr als übermenschlich, ja vielleicht sogar böse mißbilligt werden, mußte ich erst wieder erlernen, was eigentlich eine meiner natürlichen Gaben hätte sein sollen.
Schließlich lehrten sie mich, die Pflanzen zu fragen, ob sie soweit waren, ihren Daseinszweck erfüllen zu können. Ich bat die Erde um Erlaubnis und hielt dann meine Handflächen über die Pflanze. Manchmal spürte ich Hitze, und manchmal, wenn ich sie über eine reife Pflanze hielt, schien ein unkontrollierbares Zucken durch meine Finger zu gehen. Als ich diese Kunst endgültig beherrschte, spürte ich, daß ich in der Anerkennung der Stammesmitglieder einen riesigen Schritt nach vorne
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