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Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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gemacht hatte. Für sie schien dies zu bedeuten, daß ich etwas weniger degeneriert war und mich allmählich zu einem »Wahren Menschen« entwickelte.
    Es war wichtig, daß wir nie das gesamte Beet einer Pflanze abernteten. Sie ließen immer genug zurück, um neues Wachstum zu ermöglichen. In erstaunlichem Maße war sich dieses Volk einer Sache bewußt, die sie das Lied oder die stimmlosen Geräusche der Erde nannten. Sie erspüren die Botschaften, die von ihrer Umwelt ausgesendet werden. Mit einer einzigartigen Technik werden diese Botschaften entschlüsselt, worauf sie dann entsprechend handeln. Es ist, als hätten die »Wahren Menschen« einen winzigkleinen himmlischen Empfänger, über den sie die Botschaften des Universums auffangen.
    An einem der ersten Tage durchquerten wir einen ausgetrockneten See. Der Boden war an vielen Stellen in weiten, unregelmäßigen Furchen aufgebrochen, und die so entstandenen einzelnen Erdschollen hatten gewellte Ränder. Der weiße Lehm wurde von mehreren Frauen eingesammelt und später zu einem feinen Farbpuder verarbeitet.
    Die Frauen trugen lange Stöcke bei sich, mit denen sie in dem harten Lehmboden herumstocherten. Fast einen Meter unter der Erdoberfläche stießen sie auf Feuchtigkeit und förderten dann kleine runde Schlammbälle zutage. Als sie den Dreck entfernt hatten, kamen zu meiner Überraschung Frösche zum Vorschein.
    Offensichtlich überleben diese Tiere das Austrocknen ihrer Wasserstelle, indem sie sich tief in die Erde eingraben. Selbst in gebratenem Zustand waren sie noch immer saftig und schmeckten ähnlich wie eine Hähnchenbrust. In den nächsten Monaten präsentierte sich uns ein breites Angebot an Speisen, dem wir in den täglichen Zeremonien zum Preis allen Lebens huldigten. Wir verspeisten Känguruhs, Wildpferde, Eidechsen, Schlangen, Käfer, Würmer und Maden in allen Größen und Farben, Ameisen, Termiten, Ameisenbären, Vögel, Fische, Samen, Nüsse, Obst und unzählige Pflanzen - und einmal sogar ein Krokodil.
    An jenem ersten Morgen kam eine Frau auf mich zu. Sie entfernte das vor Schmutz starrende Band aus ihrem Haar, hob mein langes Haar über meinen Nacken und steckte es mir mit Hilfe des Bandes hoch.
    Ihr Name war »Seelenfrau«. Anfangs war mir nicht klar, was sie mit Seelen zu tun hatte und ob sie mit ihnen in Verbindung trat, aber nachdem wir gute Freundinnen geworden waren, wußte ich, daß sie mit meiner Seele Verbindung aufgenommen hatte.
    Ich konnte nicht mehr sagen, wie viele Tage und Wochen wir schon unterwegs waren - ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Ich gab es auf, darum zu bitten, mich zum Jeep zurückzubringen. Es war aussichtslos, und außerdem schien etwas ganz anderes zu geschehen.
    Sie hatten einen bestimmten Plan. Offensichtlich durfte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, worum es ging. Meine Kraft, meine Reaktionen und meine persönlichen Ansichten wurden immer wieder überprüft. Warum, wußte ich nicht. Ich fragte mich, ob Menschen, die weder schreiben noch lesen können, vielleicht eine ganz eigene Methode zur Leistungs überwachung entwickeln.
    An manchen Tagen wurde der Sand so heiß, daß ich meine Füße buchstäblich hören konnte! Sie zischten wie Fleisch in einer Bratpfanne. Nachdem die Blasen abgetrocknet und verhärtet waren, bildete sich an meinen Fußsohlen langsam eine Art Huf.

    Mit der Zeit schwang sich mein Durchhaltevermögen zu erstaunlichen Höhen auf. Da ich weder Frühstück noch Mittagessen einnahm, lernte ich, mich an den verschiedenen Natureindrücken zu laben. Ich sah, wie Eidechsen Wettrennen veranstalteten und Insekten ihrer Körperpflege nachgingen. Am Himmel und in den Steinen entdeckte ich Bilder.
    Die Aborigines zeigten mir in der Wüste viele heilige Stätten. Fast alles schien irgendwie heilig zu sein: Felsenformationen, Hügel, Schluchten und sogar ausgetrocknete Wasserlöcher. Unsichtbare Linien markierten die Grenzen zu den Territorien, die früher von anderen Stämmen beansprucht worden waren. Sie demonstrierten mir, wie sie Entfernungen maßen, nämlich indem sie Lieder mit ganz bestimmten Details und in vorgegebenen Rhythmen sangen. Einige Lieder hatten gut hundert Strophen. Jedes Wort mußte entsprechend den Vorgaben ausgesprochen und jede Pause exakt eingehalten werden. Improvisation oder das Auslassen vergessener Strophen kam nicht in Frage, da diese Lieder wirklich die Funktion von Meterstäben haben. Sie sangen uns sozusagen von einem Ort zum anderen.
    Ich konnte diese

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