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Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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klar, daß sie ein wichtiger Bestandteil ihres Gemeinschaftslebens war. Es war eine Art Morgengebet, die Konzentration auf die Mitte, die Festsetzung des gemeinsamen Tagesziels - wie immer man es nennen möchte. Dieses Volk ist der Überzeugung, daß es für die Existenz aller Dinge auf Erden einen Grund gibt.
    Alles hat seinen Sinn, alles paßt zueinander, es gibt keine Mißbildungen oder Zufälle. Es gibt nur Mißhelligkeiten und Rätsel, deren Lösung dem sterblichen Menschen noch nicht gelungen ist.
    Das Königreich der Pflanzen hat den Daseinszweck, Menschen und Tieren Nahrung zu spenden und den Boden zusammenzuhalten. Es hat sich der Schönheit und dem Gleichgewicht in der Atmosphäre verpflichtet.
    Sie erklärten mir, daß die Pflanzen und Bäume uns Menschen ein stilles Lied singen, und sie bitten uns lediglich, daß auch wir für sie singen. Mein wissenschaftlicher Verstand bezog dies sofort auf die Vorgänge der Fotosynthese in der Natur. Es ist nicht der erste Daseinszweck des Tieres, dem Menschen Nahrung zu spenden, aber wenn erforderlich, so fügt es sich in diese Notwendigkeit. Auch das Tier soll für das Gleichgewicht in der Atmosphäre sorgen und uns Gefährte und - durch sein Vorbild - Lehrer sein. Deshalb entsendet der Stamm jeden Morgen einen Gedanken oder eine Botschaft an die Tiere und Pflanzen in der Gegend, die sich vor uns ausbreitet. Sie sagen: »Wir gehen euren Weg. Wir kommen, um eurem Daseinszweck Ehre zu erweisen.« Dann ist es Sache der Pflanzen und Tiere, unter sich auszumachen, wer gewählt wird.
    Der Stamm der »Wahren Menschen« bricht immer ohne Nahrung auf. Auf mentale, wortlose Weise sind sie immer mit dem Universum in Kontakt. Sie glauben, daß überall in der Welt Überfluß herrscht. Wir »Veränderten« mögen dem Talent und der Lebensaufgabe eines Pianisten Anerkennung zollen, indem wir uns zusammenfinden und ihm zuhören. Im Prinzip machen die »Wahren Menschen« mit allen Erscheinungen in der Natur nichts anderes. Kreuzte eine Schlange unseren Weg, dann tat sie das ganz offensichtlich, um sich als Essen zur Verfügung zu stellen.
    Die tägliche Mahlzeit war ein ganz wichtiger Bestandteil unserer abendlichen Zeremonien. Ich lernte, daß das Auftauchen von Nahrung nicht als selbstverständlich betrachtet wurde. Man bat erst darum, aber man ging davon aus, daß sich auch etwas ergeben würde - und es geschah immer. Man nahm die Nahrung dankbar entgegen und vergaß nie, gebührend dafür zu danken.
    Jeden neuen Tag beginnt der Stamm damit, der Großen Einheit für diesen Tag zu danken; für ihr Leben, ihre Freunde, für die Welt. Manchmal haben sie besondere Bitten, aber sie formulieren sie immer so: »... wenn es zu meinem Besten und zum Besten allen Lebens auf der Welt ist.«
    Nach der ersten Morgenversammlung im Halbkreis wollte ich Ooota klarmachen, daß es jetzt an der Zeit sei, mich zum Jeep zurückzubringen, doch ich fand ihn nirgendwo. Schließlich freundete ich mich mit dem Gedanken an, noch einen weiteren Tag durchzustehen.
    Der Stamm hatte keinerlei Proviant dabei. Sie bauten kein Getreide an und ernteten auch nichts. Sie zogen durch den glühenden australischen Busch und wußten, daß die Erde sie Tag für Tag mit ihren üppigen Gaben segnen würde. Und die Erde hat sie nie enttäuscht.
    An diesem ersten gemeinsamen Morgen in der Wüste nahmen wir kein Frühstück zu uns, und ich fand bald heraus, daß dies normal war. Manchmal aßen wir abends; wann immer jedoch etwas Eßbares auftauchte, verspeisten wir es ungeachtet des Sonnenstandes. Oft aßen wir mal hier einen Bissen und mal da und nahmen den ganzen Tag keine normale Mahlzeit, wie wir sie kennen, zu uns.
    Wasser trugen wir in mehreren Blasen bei uns. Ich weiß, daß ein Mensch zu ungefähr siebzig Prozent aus Wasser besteht und unter idealen Bedingungen mindestens anderthalb Liter Flüssigkeit am Tag zu sich nehmen sollte. Die Aborigines, so beobachtete ich, brauchten viel weniger, denn sie tranken weniger als ich. Sie griffen nur äußerst selten zu den Wasserbehältern. Ihre Körper schienen die in der Nahrung enthaltene Flüssigkeit optimal zu verwerten. Sie glauben, daß wir »Veränderten Menschen« viele Abhängigkeiten mit uns herumschleppen, und die Sucht nach Wasser ist eine davon.
    Die Aborigines benutzten das Wasser, um zu den Mahlzeiten etwas einzuweichen, das wie abgestorbenes und verdorrtes Unkraut aussah. Die braunen Strünke schienen völlig tot und ausgetrocknet zu sein, als man sie ins Wasser

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