Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
Vom Netzwerk:
verborgenen Talenten zu suchen, war, daß ich mich im Scherz als Dungsammlerin bezeichnete.
    An jenem Tag ging ein hübsches junges Mädchen in ein Feld aus vertrocknetem Unkraut und kam wunderbarerweise mit einer schönen gelben Blume an einem langen Stengel zurück. Sie band sich den Stiel so um den Hals, daß die Blume wie ein wertvolles Schmuckstück daran hing. Alle anderen versammelten sich um sie und sagten ihr, wie hübsch sie aussehe und daß sie eine sehr schöne Blume ausgewählt habe. Den ganzen Tag über machte man ihr immer wieder Komplimente. Das Gefühl, an diesem Tag besonders hübsch zu sein, ließ sie strahlen.
    Ihr Anblick erinnerte mich an einen Vorfall in meiner Praxis, der sich kurz vor meiner Abreise aus den USA zugetragen hatte. Eine Patientin hatte mich wegen eines schweren Streßsyndroms aufgesucht. Als ich sie fragte, ob es in ihrem Leben zur Zeit irgendwelche besonderen Vorfälle gebe, erzählte sie mir, daß ihre Versicherung gerade die Prämie für eines ihrer Diamantenkolliers um weitere achthundert Dollar angehoben habe. Sie hatte nun in New York jemanden aufgetan, der ihr aus falschen Steinen ein exaktes Imitat dieses Kolliers machen konnte. Sie wollte dorthin fliegen, so lange warten, bis der Goldschmied mit seiner Arbeit fertig war, und dann ihre Diamanten zurück in den Banksafe bringen. Sie würde das Kollier zwar nach wie vor hoch versichern müssen, weil es selbst in der besten Bank keine Garantie für absolute Sicherheit gibt, aber zumindest würde sich die Prämie drastisch verringern. Ich fragte sie noch, ob sie denn zum alljährlich stattfindenden Ball unserer Stadt kommen würde, der bald anstand. Sie hoffte, daß das Imitat bis dahin fertig werden würde, und wollte es zu diesem Anlaß tragen.
    Am Ende unseres Wüstentags legte das Mädchen vom Stamm der »Wahren Menschen« die Blume auf den Boden und gab sie so an die Mutter Erde zurück.
    Sie hatte ihren Zweck erfüllt. Das Mädchen war sehr dankbar und bewahrte sich die Erinnerung an all die Aufmerksamkeit, die ihr an diesem Tag widerfahren war. Man hatte ihr damit bestätigt, daß sie ein schöner Mensch war. Aber an dem Gegenstand, der ihr zu dieser Aufmerksamkeit verhelfen hatte, hing ihr Herz nicht. Die Blume würde verwelken und als Humus wieder in den ewigen Kreislauf der Erde eingehen.
    Ich dachte an meine Patientin daheim und betrachtete dann das Aborigine-Mädchen. Ihr Schmuck hatte eine besondere Bedeutung, unserer hatte einen finanziellen Wert.
    An einem der Wertesysteme in dieser Welt schien etwas nicht zu stimmen, schloß ich. Aber es handelte sich dabei wohl kaum um das dieser primitiven Menschen im sogenannten Never-Never-Land des australischen Buschs.

11 •   Soße
    Die Luft stand so still, daß ich spürte, wie das Haar in meinen Achselhöhlen wuchs. Die Hornhaut an meinen Füßen wurde immer dicker, weil jetzt auch die tieferliegenden Hautschichten austrockneten.
    Plötzlich hielt unsere Kolonne. Wir waren an eine Stelle gekommen, wo ein Holzkreuz einmal auf ein Grab hingewiesen hatte. Mittlerweile war dieses Grabmal umgekippt, und das Band, das die beiden Hölzer zusammengehalten hatte, war verrottet. Auf dem Boden lagen nur noch zwei Holzstäbe, der eine lang, der andere kurz. Der Werkzeugmacher nahm die beiden Stäbe und zog einen dünnen Fellstreifen aus seinem Beutel. Mit der ihm eigenen Präzision wickelte er die Tierhaut um das Kreuz und reparierte es. Einige Aborigines sammelten ein paar große Steine und formten damit ein Oval im Sand. Dann wurde das Grabmal wieder im Boden verankert.
    »Ist es das Grab eines Stammesmitglieds?« fragte ich Ooota.
    »Nein«, antwortete er. »Hier liegt ein >Veränderter< begraben. Das Grab ist schon seit vielen, vielen Jahren hier. Deine Leute haben es längst vergessen und wohl auch derjenige, der es errichtet hat.«
    »Warum habt ihr es dann wiederhergerichtet?« fragte ich.

    »Warum nicht? Wir verstehen eure Bräuche nicht.
    Sie sagen uns nicht zu, und wir übernehmen sie nicht, aber wir maßen uns kein Urteil an. Wir respektieren eure Einstellung. Ihr seid genau an dem Punkt angelangt, an dem ihr sein solltet, denn ihr habt in der Vergangenheit eure Wahl getroffen und könnt heute eure Entscheidungen aus freiem Willen fällen. Dieser Ort ist für uns genauso heilig wie andere Stätten. Es ist ein Ort, an dem man verweilt, nachdenkt und die Beziehung des Menschen zur Göttlichen Einheit und zu allem Leben bekräftigt. In diesem Grab liegt nichts mehr,

Weitere Kostenlose Bücher