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Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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uns da. Ich sah sie vor mir, wie sie den Landstreichern zu essen gab, die wie durch einen Zauber unter den vielen Häusern der Stadt das eine erkannten, in dem man ihnen niemals die Tür wies.
    Meine Schwester war eine Einser-Schülerin und so hübsch und beliebt, daß ich ihr stundenlang dabei zuschauen konnte, wie sie sich für eine Verabredung zurechtmachte. Als ich klein war, wollte ich immer wie meine Schwester werden. Ich sah auch meinen kleinen Bruder vor mir, wie er unseren Hund umarmte und sich beklagte, daß die Mädchen in der Schule immer seine Hand halten wollten. Als Kinder waren wir drei gute Freunde gewesen. Wir hätten in jeder Situation zusammengehalten. Aber mit den Jahren hatten wir uns auseinandergelebt. Sie würden meine Verzweiflung an diesem Tag noch nicht einmal spüren.
    Wenn man stirbt, hatte ich gelesen, zieht das ganze Leben noch einmal an einem vorbei. Mein Leben lief zwar nicht wie ein Videofilm vor mir ab, aber ich erinnerte mich an die eigenartigsten Dinge. Ich sah mich in der Küche stehen und Geschirr abtrocknen. Dabei übte ich, Wörter zu buchstabieren. Eines der schwierigsten Wörter, mit denen ich jemals kämpfte, war das Wort Klimaanlage. Ich erinnerte mich, wie ich mich in einen Seemann verliebt hatte, an unsere kirchliche Trauung, das Wunder der Geburt, erst meines kleinen Jungen und dann meiner Tochter, die bei einer Hausgeburt zur Welt kam. Alle meine Jobs, meine Schullaufbahn und die Jahre an der Universität zogen an mir vorüber, aber dann wurde mir plötzlich klar, daß ich hier draußen in der australischen Wüste starb.
    Was bedeutete das überhaupt? Hatte ich alles erreicht, was ich in meinem Leben erreichen sollte? »Lieber Gott«, sagte ich zu mir selbst, »bitte hilf mir zu verstehen, was hier vorgeht.« Die Antwort kam sofort.
    Ich war zwar über zehntausend Meilen aus meiner amerikanischen Heimatstadt hierher gereist, aber in meinem Denken war ich keinen Zentimeter weitergekommen. Ich kam aus einer Welt, die von der linken Gehirnhälfte regiert wurde. Logik, Verstand, Lesen, Schreiben, Mathematik, Ursache und Wirkung, das waren die Prinzipien, mit denen ich aufgewachsen war. Aber jetzt befand ich mich in einer Welt, in der die rechte Gehirnhälfte dominierte, bei Leuten, die von meinen sogenannten wichtigen Bildungskonzepten und den Notwendigkeiten der Zivilisation nichts wußten.
    Für sie zählten Kreativität, Phantasie, Intuition und spirituelles Leben. Ihre Mitteilungen an die anderen zu verbalisieren hielten sie für unnötig; sie benutzten Gedanken, Gebete und die Meditation oder wie immer man es nennen mag. Ich hatte mit meiner Stimme um Hilfe gebettelt und gefleht. Wie dumm ihnen das erscheinen mußte. Jeder »Wahre Mensch« hätte still gefragt; von Kopf zu Kopf, von Herz zu Herz, vom einzelnen zum universellen Bewußtsein, das alles Leben vereint. Bis zu diesem Moment hatte ich mich selbst als anders gesehen, etwas hatte mich von den
    »Wahren Menschen« getrennt. Obwohl sie immer wieder betont hatten, daß wir alle eins sind und auch mit der Natur eins sind, war ich bis jetzt die Beobachterin geblieben. Ich hatte mich immer von ihnen abgegrenzt. Ich mußte eins mit ihnen werden, eins mit dem Universum, und ich mußte ihre Art der Verständigung benutzen. Also tat ich es. In Gedanken bedankte ich mich bei dem Urheber dieser Erkenntnis, und in Gedanken rief ich laut: »Helft mir. Bitte, helft mir.« Ich benutzte den Ausdruck, den ich jeden Morgen von den Stammesangehörigen gehört hatte: »Wenn es zum Besten für mich und zum Besten für alles Leben auf der Welt ist, laßt mich bitte lernen.« Plötzlich schoß ein Gedanke durch meinen Kopf.
    »Steck den Stein in deinen Mund.« Ich sah mich um.
    Es gab nirgendwo Steine. Wir gingen auf Sand, der so fein war wie der Sand in einer Eieruhr. Wieder kam der Gedanke. »Steck den Stein in deinen Mund.« Dann erinnerte ich mich an den Stein, den ich ausgewählt hatte und den ich noch immer zwischen meinen Brüsten trug. Dort hing er schon seit vielen Wochen, doch ich hatte ihn vergessen. Ich nahm ihn und steckte ihn in meinen Mund, wo ich ihn herumrollte. Um den Stein bildete sich wunderbarerweise Feuchtigkeit. Ich merkte, wie ich plötzlich wieder schlucken konnte. Es gab noch Hoffnung. Vielleicht war es mir doch nicht bestimmt, an diesem Tag zu sterben.
    »Danke, danke. Ich danke euch«, sagte ich still. Ich hätte weinen können, aber meinem Körper fehlte die Flüssigkeit, um Tränen zu bilden. In Gedanken

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