Traumfänger
schien für meine Weggefährten einfach kein Thema zu sein. An einem Tag hatte ich jedoch das eigenartige Gefühl, heute sei Weihnachten. Warum, weiß ich selbst nicht. Es gab wirklich nichts, das auch nur ansatzweise an einen geschmückten Weihnachtsbaum oder eine Kristallschale voller Eierpunsch erinnert hätte. Doch es war wahrscheinlich wirklich der 25. Dezember. So kam ich dazu, mir über die Tage der Woche Gedanken zu machen, und ich erinnerte mich an einen Vorfall, der sich vor einigen Jahren in meiner Praxis zugetragen hatte.
Im Wartezimmer hatten zwei christliche Geistliche Platz genommen, die eine Diskussion über Religion begonnen hatten. Ihre Diskussion wurde immer leidenschaftlicher, als sie darüber zu streiten begannen, ob der eigentliche Sabbat nach der Bibel nun Samstag oder Sonntag sei.
Hier draußen im Outback kam mir die ganze Episode plötzlich völlig absurd vor. In Neuseeland war Weihnachten bereits vorbei, aber in Amerika feierten sie in diesem Moment das Fest des Herrn. Ich mußte an die krumme rote Linie denken, die man in meinem Weltatlas durch den blauen Ozean gezogen hatte. Hier, so sollte sie klarmachen, begann die Zeit, und hier hörte sie auch auf. Auf einer unsichtbaren Grenze in der sich ständig bewegenden See wurde jeder neue Tag der Woche geboren.
Ich erinnerte mich auch, wie ich in meiner Zeit als Schülerin an der St. Agnes High School eines Freitags abends auf einem Hocker in Allen's Drive-in gesessen hatte. Vor uns lagen unsere fertigen Whopper-Burger, und wir warteten darauf, daß die Uhr Mitternacht schlug. Ein einziger Bissen Fleisch am Freitagabend wäre auf der Stelle als Todsünde verbucht worden und hätte ewige Verdammnis bedeutet. Jahre später änderte man dieses Gebot, aber niemand konnte meine Frage beantworten, was denn nun mit den armen Seelen geschehe, die bereits in ewiger Verdammnis schmorten. Wie albern dies alles jetzt schien. Ich kann mir keine bessere Art vorstellen, dem Geist des Weihnachtsfestes gerecht zu werden, als die Lebensweise der »Wahren Menschen«. Anders als bei uns gibt es bei ihnen keine alljährlichen Fest- und Feiertage. Jedem einzelnen Stammesangehörigen wird irgendwann im Jahr einmal besondere Ehre erwiesen, aber das hat nichts mit seinem Geburtstag zu tun. Hier geht es darum, der jeweiligen Person für ihre Begabung, ihren Beitrag zur Gemeinschaft und ihre spirituelle Weiterentwicklung Anerkennung zu zollen. Sie feiern es nicht, wenn sie älter werden; sie feiern es, wenn sie besser werden.
Eine Frau sagte mir, ihr Name, der auch für ihr persönliches Talent im Leben stand, laute »Zeitbewahrerin«. Die »Wahren Menschen« glauben, daß jeder Mensch über viele Begabungen verfügt, die zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich stark ausgebildet sind. Im Moment war diese Frau eine Zeitkünstlerin.
Sie arbeitete mit einer anderen Frau zusammen, die über ein besonders detailliertes Erinnerungsvermögen verfügte. Als ich die Zeitbewahrerin genauer über ihr besonderes Talent befragen wollte, antwortete sie mir, der Stamm wolle darüber beratschlagen, und man würde mir später mitteilen, ob mir Zugang zu diesem Wissen gewährt werden sollte oder nicht. Es gab ungefähr drei Abende, an denen mir die Unterhaltungen am Feuer nicht übersetzt wurden.
Ohne zu fragen wußte ich, daß das Gespräch um die Frage kreiste, ob man mir eine spezielle Information nun zukommen lassen sollte oder nicht. Ich wußte auch, daß es bei ihren Überlegungen nicht allein um mich ging, denn für sie repräsentierte ich alle »Veränderten Menschen« auf der Welt. An diesen drei Abenden war auch deutlich geworden, daß sich der Stammesälteste von allen am meisten für mich einsetzte, während Ooota sich ganz kritisch und vorsichtig gab.
Mir war klar, daß sie mich für eine einzigartige Erfahrung erwählt hatten, zu der noch nie zuvor einem Außenseiter Zugang gewährt worden war. Vielleicht hatte ich zuviel verlangt, als ich wissen wollte, was es mit dem »Zeitbewahren« auf sich hatte.
Wir setzten unsere Wanderung durch die Wüste fort. Das Terrain war felsig und sandig, die Vegetation karg, aber es gab Hügel, und die Landschaft war nicht mehr ganz so flach wie die Gegenden, durch die wir bisher gekommen waren. Irgendwie schienen hier die Füße von vielen Generationen dieses farbigen Volkes ihre Spuren hinterlassen zu haben, denn die Erde war leicht vertieft.
Ohne eine Vorwarnung blieb die Gruppe plötzlich stehen, und zwei Männer traten vor.
Weitere Kostenlose Bücher