Traumfrau mit Fangzähnen
würde der Lärm des Tages wieder aufwallen: hupende Autos, plärrende Radios und Menschen, die einander etwas zuriefen. Zu dieser Zeit würde ich mich bereits zum Schlafen zurechtgemacht haben. Den Menschen gehörte der Tag. Mir gehörte die Nacht.
Ich zog an Jades Leine und sagte ihr, dass wir umkehren mussten. Sie änderte gefügig die Richtung, doch als wir gerade ein paar Schritte gegangen waren, hörte ich das Schlagen einer Trommel. Es war ein angenehmes, beinahe fröhliches Geräusch, und da das Ungewöhnliche in New York City buchstäblich an der Tagesordnung ist, nahm ich an, dass irgendein halbbekiffter Musiker um halb fünf morgens beschlossen hatte zu üben. Doch mit jedem Schritt, den ich tat, schien das Geräusch lauter zu werden: rat-a-tat, rat-a-tat, ein Stakkato, das geradewegs aus dem Boden zu kommen schien. Plötzlich glaubte ich zu spüren, wie sich die Erde unter meinen Füßen um ihre Achse drehte. Die Gebäude schienen krumm und schief auf ihren Fundamenten zu stehen, und der untergehende Mond wirbelte wie verrückt über den Himmel. Jade war stehen geblieben, hob die Schnauze und stieß ein Heulen aus, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
In diesem Moment entdeckte ich eine Eule, die in der Mitte des Bürgersteigs direkt vor mir saß. Sie war recht klein und blinzelte träge mit ihren gelben Augen. Ich bin abergläubisch. Eulen sind schlechte Omen. Während ich sie anstarrte, begann sie, sich um die eigene Achse zu drehen, die Bewegung wurde immer schneller, die Umrisse verwischten, und die Eule verwandelte sich plötzlich in Don Manuel. Jade bellte und stürzte sich so schnell auf ihn, dass sie mir beinahe die Leine aus der Hand gerissen hätte. Don Manuel lächelte nur, stieg etwa zwei Meter in die Luft, außerhalb von Jades Reichweite, und blieb dort schweben.
»Haben Sie die Männer gefunden, die das Susto haben?«, fragte er.
»Ich denke schon«, erwiderte ich und sah hinauf in sein Gesicht.
»Aber Sie haben die Antwort nicht gefunden«, sagte er.
»Ich kenne die Frage überhaupt nicht«, entgegnete ich.
»Die Frage lautet: ›Was bringt diese Menschen um?‹«, sagte er und begann langsam zu verblassen.
»Und was ist die Antwort?«, schrie ich hinauf, während er immer durchsichtiger wurde.
»Die Angst«, erwiderte er mit einer Stimme so dünn wie die Luft. »Susto …«
Dann war alles still. Eine Eulenfeder flog sanft Richtung Erde und landete auf meinem Fuß. Jade beschnüffelte sie argwöhnisch, und ich hob sie auf und steckte sie in die Manteltasche. Dann traten wir den Rückweg an.
Als wir in meiner Wohnung ankamen, war die Sonne nur noch wenige Zentimeter hinter dem Horizont verborgen. Mich überfiel eine unendliche Müdigkeit, doch die Worte des Gestaltwandlers ließen mir keine Ruhe. Ich wusste nicht genau, inwiefern »Susto« und »Angst« miteinander zu tun hatten, aber ich wusste, dass die Angst an sich sowohl etwas Ursprüngliches als auch Tödliches war. Alle großen modernen Psychologen haben darüber geschrieben: Søren Kierkegaard behandelte Angst und existenzielle Furcht, Sigmund Freud, Carl G. Jung und Ernest Becker stellten Theorien über Angst und die Bildung der Persönlichkeit auf. Für den heutigen New Yorker wie auch für alle Amerikaner sind die unterschiedlichen Abstufungen von Angst, von einer leichten Beunruhigung bis hin zu entsetzlicher Furcht und Panikattacken, zu ständigen unwillkommenen Begleitern geworden. Die pure Lust am Leben ist verschwunden, ersetzt durch Wachsamkeit, Nervosität, Alpträume und Stress. Alle wissen, dass die Angst in den letzten Jahren der Wurm geworden ist, der am Herzen der Stadt nagt.
Noch während ich darüber nachdachte, wurde mir bewusst, dass die Stimme des Schamanen nicht zu einem westlichen Philosophen gehörte. Um ihn verstehen zu können, musste ich eine andere Denkweise, eine andere Weltsicht heranziehen. Ich ging in meine Bibliothek und suchte in den Regalen nach einem Buch von Jiddu Krishnamurti. 1895 in Andrah Pradesh in Indien geboren, wurde er als Teenager von Mitgliedern der Theosophical Society gefunden und von einer Dame namens Annie Besant adoptiert, da die Gesellschaft glaubte, dieser indische Junge sei der neue Weltlehrer. Die rätselhafte Ausdrucksweise des Schamanen erinnerte mich an die Lehren Krishnamurtis, die tiefgründig und grob vereinfachend zugleich klangen. Jiddu Krishnamurti bezeichnete Angst als den Feind eines sich entfaltenden Bewusstseins. Angst war die eiserne
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