Traumfrau mit Fangzähnen
Kette, die die Menschen an Materialismus und an das Verharren in Traditionen fesselte.
Ich fand das Buch, Krishnamurtis
Life Ahead,
und begann darin zu lesen. Es erforderte viel Geduld, da Krishnamurtis Lehre nicht geradlinig aufgebaut ist. Sie wiederholt sich, macht einen Schritt zurück, dreht sich im Kreis, und die gedruckten Wörter sind kein zusammenhängender Text, sondern eine Abschrift seiner Vorträge und Gespräche. Ich sank in die weißen Laken meines Sarges und gab mir alle Mühe, die Augen offen zu halten, während ich die Seiten überflog. Doch ich fand keinen Hinweis auf die Tödlichkeit von Angst. Das bedeutete jedoch nicht, dass meine Suche umsonst war. Krishnamurtis Lehre vermittelte mir eine unschätzbare Erkenntnis: Der einzige Weg, Angst zu besiegen, ist, sich ihr zu stellen. Wie ich das auf die Bedrohung durch eine Drogenepidemie anwenden sollte, wusste ich allerdings nicht.
Nachdem ich am folgenden späten Nachmittag aufgestanden war, stellte ich fest, dass ich Anweisungen von J auf dem Anrufbeantworter hatte. Ein Treffen des Teams war auf sechs Uhr angesetzt, was für einen Vampir noch geradezu mitten in der Nacht ist. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass J einfach nicht begreifen wollte, dass wir nach einem anderen Tagesrhythmus lebten. Es war bereits nach fünf, und mir blieb kaum Zeit, zu duschen und mich anzuziehen. Es würde allein zehn Minuten dauern, bis ich meine Haare geföhnt hatte, und noch einmal eine halbe Stunde bis zur dreiundzwanzigsten Straße. Obendrein musste ich noch Jade füttern und mit ihr vor die Tür gehen und mich um Gunther kümmern, den ich in letzter Zeit vollkommen vernachlässigte. Ein Meeting um sechs war vollkommen verrückt.
Ich zerrte gerade hektisch Klamotten aus dem Kleiderschrank, als ich plötzlich zu mir selbst sagte:
Wow. Jetzt atme erst einmal tief durch und beruhige dich
.
Dann komme ich eben zu spät.
J und ich hatten ohnehin ein angespanntes Verhältnis, da kam es auf Pünktlichkeit auch nicht mehr an.
Ich trödelte zwar nicht, hetzte mich aber auch nicht mehr ab. Ich zog Jeans, meine Lieblingsstiefel von Frye und einen dicken, wollenen Rollkragenpullover an und rundete das Outfit mit einer ledernen Fliegerjacke, Fausthandschuhen und einer weißen Strickmütze ab, die ich vor ein paar Jahren in Dingle in Irland erstanden hatte. Als ich – nach Erledigung all meiner häuslichen Pflichten – schließlich abmarschbereit war, fiel mir plötzlich ein, dass ich den Bericht über die Vorfälle in den Hamptons noch nicht geschrieben hatte. Weitere dunkle Flecke auf meiner tugendhaft weißen Weste. Damit würde ich ganz sicher auf Js Abschussliste landen. Doch dann beschloss ich, dass Angriff immer noch die beste Verteidigung war und ich J dementsprechend selbstsicher gegenübertreten sollte.
Um Viertel vor sieben betrat ich streitlustig und türknallend das Konferenzzimmer. Aber ich hätte mir keine Gedanken machen müssen. Abgesehen von J, der am Kopfende des Tisches saß und in einer Akte blätterte, war ich die Erste. Es überraschte mich nicht sonderlich, denn Vampire sind berüchtigt für ihre Unzuverlässigkeit, wenn es um das Einhalten von Regeln oder Verordnungen geht. Zum einen hatten wir niemals andere Regeln befolgen müssen als diejenigen, die uns die Bedürfnisse unserer Art diktierten, wie das Verlangen nach lebenspendendem Blut. Und zum anderen waren wir keine Team-Player. Wenn man fünfhundert Jahre allein in einem Schloss lebt, braucht man keinen Terminkalender.
Abgesehen von der vampirischen Neigung zur Unpünktlichkeit, ist Cormac beispielsweise immer schon derart egozentrisch gewesen, dass Pünktlichkeit für ihn nur bei einem Vorsprechen am Broadway eine Rolle spielte. Und was die anderen beiden betrifft – Benny und Bubba sind Südstaatler und bewegen sich einfach nicht so schnell wie New Yorker. Das soll jetzt keineswegs eine Kritik sein. Ich halte diese ganze Wir-treten-in-einer-Reihe-an-sind-pünktlich-und-befolgen-Befehle-Denkweise für schwachsinnig. Sogar Mar-Mar fühlte sich in der Gegenbewegung der 1960er Jahre wohler und ist immer noch jemand, der die Regeln eher bricht, anstatt sie aufzustellen.
»Hi«, begrüßte ich ihn. Die Abwesenheit der anderen hatte mir etwas den Wind aus den Segeln genommen, daher ließ ich meinen Rucksack fallen und setzte mich ohne ein weiteres Wort auf einen Stuhl.
J sah mich mit strahlendem Lächeln an, und sofort begannen meine Alarmglocken zu klingeln. Er war viel zu nett.
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