Traumfresser 3 - Die Alchemie des Bösen
Nachthimmel schien von Schreien und Stöhnen widerzuhallen. Er blickte in die entsetzten Gesichter der anderen, trieb sie jedoch wütend an. »Los! Los!«
»Was ist denn passiert?«, fragte Gorine.
Chang packte Gorine am Arm. »Sie leben. Der Wagen war zu weit entfernt. Laufen Sie!«
Erst nach fünfzig Metern gestattete sich Chang zurückzublicken. Die Orange Canal Station stand in Flammen, sogar ihr Schindeldach brannte.
Chang hatte nur eine niedergemähte Masse gesehen und so viele Leichen, dass sich einem Schlachter der Magen umgedreht hätte. Wie viele waren überhaupt unversehrt geblieben – vielleicht drei von zehn? Doch Chang hatte Gorine nicht angelogen. Der Wagen, der ein gutes Stück abseitsgestanden hatte, war unbeschädigt, und die Insassen waren offensichtlich unverletzt. Bronque jedoch … wo der Colonel gestanden hatte, befand sich ein qualmender Haufen …
Mit einem Schlag hatten sich sämtliche Bedingungen geändert. Chang hatte auf Bronques Männer gezählt. Sie sollten ihm Zugang zu Harschmort House verschaffen. Er überlegte kehrtzumachen, um ihre Kräfte zu verstärken – und er spürte an Gorines Blick, dass dieser ihn zu dieser Entscheidung drängen wollte –, aber er verwarf die Idee. Die Soldaten, die noch einsatzfähig waren, wären dankbar für neue Ziele, an denen sie ihren Zorn auslassen könnten. Und Chang hatte Mrs. Kraft bereits ihre Chance gegeben. Er wäre ein Idiot, wenn er sie jetzt retten würde.
Sie marschierten ohne das Licht der Sterne oder des Monds. Das Chaos auf dem Bahnhof wich raschelndem Gras und dem Schmatzen nasser Felder. Trooste murmelte die ganze Zeit entsetzt vor sich hin, stolperte in den Matsch und in Pfützen, denen die anderen auswichen.
»Sie haben Ihre ganzen Unterlagen verloren«, stellte Chang fest.
Trooste blickte mit säuerlicher Miene auf und balancierte auf einem Fuß, während er das tropfende Gegenstück schüttelte. »Von wegen verloren! Weggenommen hat man sie mir!«
Chang blickte zu Cunsher, der sich entschuldigend am Ohr kratzte. »Der Versuch des Professors, seine Besitztümer zu beschützen, hat ihre Konfiszierung womöglich beschleunigt.«
»Und wo sind sie jetzt?«, fragte Trooste. »Diese Papiere waren unsere einzige Sicherheit …«
»Halt«, sagte Chang. »Hören Sie.«
Trooste hielt inne und drehte sich dann in Richtung der Geräusche. »Ist das Musik?«
Das niedrige Gras würde sie nicht verbergen. Chang rannte los. Zwanzig durchweichte Meter, und er traf auf eine unbefestigte Straße. Er sprang über den Graben am Rand, winkte die anderen herüber und riskierte einen Blick zum Bahnhof. Mit Fackeln in der ersten Reihe sang ein Trupp Grenadiere aus vollem Halse ein Regimentslied:
Zertrete unterm Fuß
Einen jeden Feind.
Schick ihm den Abschiedsgruß,
Bis die Hölle euch vereint.
Auf der anderen Straßenseite erhoben sich Sanddünen. Die Grenadiere kamen näher, und das Stampfen ihrer Stiefel war wie eine Basstrommel, die ihr Lied begleitete. Das unverhohlene Vorrücken verriet einen finsteren Entschluss. Auch diesmal hatte Chang nicht den Wunsch, dessen Objekt zu sein. Das Gras verschwand – eine leichte Senke, die jedoch genügte. Er ließ sich flach zu Boden fallen, und die anderen folgten. Chang nahm seine Brille ab – in den Gläsern würde sich das Licht der Fackeln widerspiegeln – und hob den Kopf.
Das Eliteregiment der Königin hatte sich in einen mittelalterlichen danse macabre verwandelt, bei dem jeder Mann – die meisten zeigten sichtbare Wunden – das Gewicht des erlittenen Schicksals trug. Chang hatte nicht auf das Geschrei und Gebrüll geachtet, das der Explosion gefolgt war – er war zu beschäftigt damit gewesen, die anderen um sich zu scharen –, aber jetzt erschauerte er. Diese Überlebenden waren nicht von der Explosion getroffen worden. Ihre Verletzungen waren viel grausamer: sie hatten sie durch die Hand ihrer Kameraden erlitten, die durch die Glassporne wahnsinnig geworden waren. Wie viele ihrer eigenen Leute hatten sie wie räudige Hunde töten müssen? Eine tödliche Bitterkeit zeichnete jedes einzelne Gesicht.
An der Spitze der mitgenommenen Kolonne – Chang zählte dreißig Mann – marschierte Colonel Bronque, ohne Kopfbedeckung, der Goldbrokat zerrissen, der linke Arm in einer Schlinge, und er sang lauter als alle anderen. Die Nachhut bildete ein Wagen mit Mrs. Kraft, Mahmoud und Kelling. Chang duckte sich, weil Mahmoud erhöht stand, und wartete eine volle Minute, bevor er einen
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