Traumfresser 3 - Die Alchemie des Bösen
weißt es nicht – man hat es dir gesagt. Was hast du dir von der Frau noch erzählen lassen?« Miss Temple erhob sich, glättete ihre Unterröcke und zeigte auf den Nachttopf. Erneut schüttelte das Mädchen den Kopf. »Es wird eine lange Fahrt«, sagte Miss Temple, verärgert darüber, dass sie sämtliche nervigen Tanten oder Betreuerinnen nachahmte, die sie jemals gekannt hatte. Mit einem Schulterzucken setzte sich das Mädchen auf den Nachttopf und blickte mürrisch auf einen Punkt zwischen ihren Schuhen.
»Die Contessa hat dich zu meinem Hotel geschickt«, sagte Miss Temple. »Du hast nicht versucht, nach Hause zu fliehen.«
»Warum auch?«
»Weil sie äußerst böse ist.«
»Ich glaube, Sie sind böse.«
Die scharfe Erwiderung hatte gesessen, und Francesca wand sich hin und her und sagte nichts. Ihr Gesicht hatte eine natürliche Blässe, doch jetzt war es verkniffen und angespannt. Hatte das Mädchen zu essen bekommen? Miss Temple stellte sich vor, wie die Frau mit einem überheblichen Schnauben Francesca Speisereste vor die Füße kippte – aber dann fiel ihr wieder ein, was sie im Eisenbahnwaggon erlebt hatte, als die Contessa eine Pastete halbiert und mit hinterlistiger Freundlichkeit grüne Apfelschnitze gereicht hatte.
»Die Contessa ist also deine Freundin«, sagte sie.
Francesca rümpfte die Nase.
»Sie ist sehr schön.«
»Schöner als Sie.«
»Natürlich ist sie das. Sie ist ein schwarzhaariger Engel.«
Francesca blickte misstrauisch auf, als habe ›Engel‹ eine Bedeutung, die Miss Temple nicht kennen konnte. Miss Temple legte Francesca einen behandschuhten Finger unters Kinn und hielt ihrem Blick stand.
»Ich weiß, dass es beängstigend ist, allein zu sein, und einsam, stark zu sein. Aber du bist eine Trapping-Erbin und eine Xonck-Erbin. Du musst dir eine eigene Meinung bilden.«
Sie trat zurück und ermöglichte es dem Mädchen aufzustehen. Francesca tat es, wobei sie das Kleid noch immer über ihren dürren Oberschenkeln zusammenraffte. »Es gibt kein Wasser«, sagte sie klagend. »Ich habe es ohne Wasser bestens hinbekommen«, murmelte Miss Temple, öffnete jedoch ihre Handtasche und suchte nach einem Taschentuch. Murrend riss sie es in zwei Hälften, halbierte dann diese noch einmal und hielt Francesca die Fetzen hin, die sie sich schnappte und sich abwischte.
»Ein Soldat braucht nicht das Taschentuch von jemandem«, stellte Miss Temple fest.
»Ich bin kein Soldat.«
Miss Temple nahm den Arm des Mädchens und zerrte sie zur Tür. »Doch, das bist du, Francesca. Ob du willst oder nicht.«
»Ausgezeichnet, Sie sind zurück.« Doktor Svenson erhob sich und vergrub, eine Zigarette im Mund, beide Hände in seinem Militärmantel. Chang stand auf der anderen Seite des Raums. Miss Temple bemerkte, wie die Männer bei ihrem Eintreten ihre Haltung veränderten. Sie hatten über sie gesprochen. Ihrer Verstimmung folgte der gegenteilige Gedanke, dass sie nicht über sie gesprochen hatten. Bei ihrem Eintreten hatten sie stattdessen ihr Gespräch über Strategien und Gefahr unterbrochen, Dinge, zu denen sie nichts beitragen konnte und von denen sie sich nicht verunsichern lassen sollte.
Trotz seiner Krise erschien Chang genauso fähig wie zuvor – fähiger jedenfalls als jemand, der wochenlang gefangen gehalten worden war. Ein Blick auf Svenson verriet seine Erschöpfung. Dass es ausgerechnet ihm nicht gelungen war, die Contessa zu töten, war Beweis genug. Miss Temple beschloss ihm zu helfen, wo sie konnte. Zugleich stufte ein nüchterner Teil ihres Verstands ihn als unzuverlässig ein.
»Wie kommen wir am besten zurück?«, fragte Svenson. »Der Aufzugschlüssel bietet uns ein paar Möglichkeiten …«
»Gehen Sie nicht da lang.« Francesca schritt zu den Schranktüren und öffnete sie weit. Darin war eine Luke aus Metall. »Sie brauchen eine Laterne. Es gibt Ratten.«
Svenson spähte in den Schacht hinunter. »Und wohin führt das … ich meine, wie weit hinunter …«
»Zur Brücke«, antwortete Chang. »Zu den Turbinen.«
»Aha.«
»Geht es Ihnen wieder gut?«, rief Miss Temple Chang zu.
Mit einem sardonischen Lächeln breitete Chang die Arme aus. »Wie Sie sehen.«
»Ist das alles, was Sie sagen können?«
»Ich habe wie ein Idiot in etwas hineingeblickt, was ich nicht hätte tun sollen.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Was haben Sie gesehen? Der Doktor hat mir von ihrer abstrusen Idee erzählt, es mir gleichzutun.«
»Ich habe in die Glaskugel geschaut, um die
Weitere Kostenlose Bücher