Traumkristalle
Schulze fand den Gedanken an seine akademische Stammecke nicht übel und ..schlug die bewußte Richtung ein. Er war noch nicht weit gelangt, als er einer Dame begegnete, deren Beredsamkeit er sonst in größerem Bogen auszuweichen pflegte. Heute kam sie ihm, so weit es die Dunkelheit gestattete, in rosigem Lichte vor. Linolinde v. Zwinkerwitz hatte allerdings Rot aufgelegt. Seit zehn Jahren – so lange nämlich war Schulze Privatdozent – behauptete sie, daß er ihr den Hof mache, und ebenso lange zwang sie ihn bei jeder Begegnung zu einer längeren Aussprache. Schulze pflegte zu klagen, er habe auf diese Weise schon zwei ganze Semester verloren – das Semester zu drei Monaten, den Monat zu zwanzig Tagen und den Tag zu anderthalb Stunden gerechnet – so lange nämlich dauerte sein Kolleg über die Geschichte der griechischen Philosophie vor Sokrates. Jetzt aber war Linolinde ganz entzückt von Schulzes Liebenswürdigkeit, und gerührt gestand sie ihm, daß sie eine Novelle geschrieben habe, nur einige hundert Seiten. Ob er sie nicht einmal durchlesen wolle.
„Mit dem größten Vergnügen, teuerstes Fräulein! Wie freue ich mich auf den Genuß, einen Blick in das Leben Ihrer schönen Seele zu tun! Wie werde ich den Helden beneiden, den der Hauch Ihres Genius mit dem ganzen Farbenzauber Ihrer Liebe geschmückt hat!“
„Ja“, rief Linolinde, „Sie erraten meine Gefühle! O dieser Scharfsinn der Philosophen! Ach, ich wage es nicht – nein, ich darf Ihnen meine Novelle nicht geben! Wenn ich mich getäuscht hätte –“
„Es gibt keine Täuschung für die wahre Dichterin. Zweifeln Sie nicht an dem treuen Verständnis, das ich den Gefühlen Ihres Helden entgegenbringe.“
„Aber Sie wissen nicht –“
„Ich weiß, daß ich zufrieden bin.“
Linolinde schwieg. Sie waren auf die Promenade gekommen, die rote Laterne blinkte in der Nähe. Linolinde ging immer weiter. „Sie gehen noch länger hier spazieren?“ fragte sie. Schulze hatte das Gefühl, daß er dies eigentlich nicht wolle, es zog ihn nach der Laterne, aber er konnte nicht nein sagen. So schritt er weiter, Linolinde neben ihm. In Gedanken verloren kehrte er am Ende der Promenade um, Linolinde desgleichen. Sie sprachen noch immer nichts. Linolinde glitt aus – ein leichter Schrei –, dann nahm sie den Arm, den er ihr darbot.
„Die Glätte“, sagte er, „ist die vornehmste und die holdeste Eigenschaft der Körper, sie ist die Stufe, über welche die Materie zur Idee schreitet; darum hielt Epikur die Seelenatome für das Glätteste. Nicht ohne Grund alliteriert der Sprachgeist Glätte, Glaube, Glück.“
Linolinde drückte leise seinen Arm und hauchte: „Warum sollen wir uns nicht sagen, daß wir uns verstehen?“
„Wir verstehen uns“, erwiderte er. Da hing Linolinde an seinem Halse, dank der Sparsamkeit des Stadtrates im Dunklen auf der menschenleeren Promenade, zwanzig Schritt von der roten Laterne. Ein Räuspern ward vernehmbar, Schritte – „Auf Wiedersehen!“ Linolinde entschwand. Schulze trat seelenvergnügt in sein Stammlokal, wo er an der Tür mit seinem Spezial-Kollegen, dem Professor Oberwasser, zusammentraf. –
Es wurde ein bedenklicher Abend für Schulze, denn er konnte niemand etwas abschlagen. Für den folgenden Morgen versprach er dem Geologen, ihn auf einer den ganzen Tag dauernden Exkursion zu begleiten, zugleich aber seinem Nachbar zur Linken, ihm um zwölf Uhr auf der Bibliothek eine Auskunft zu geben, und nachdem die beiden fortgegangen, nahm er von einem später Angekommenen für dieselbe Zeit eine Einladung zum Frühstück an. In bezug auf seine Reiseerinnerungen, die zur Sprache kamen, verstrickte er sich in ein unendliches Netz von Lügen, weil er auf keine Frage nein zu sagen vermochte, und zuletzt kam er in Streit mit seinem Kollegen Oberwasser wegen der bekannten literarischen Fehde, in welche dieser mit dem berühmten Philosophen Weißschon über die Anschaulichkeit des reinen Nichts geraten war.
„Kann ein vernünftiger Mensch“, so rief Oberwasser entrüstet aus, „es für möglich halten, daß die pure Aufhebung eines Begriffes als solche noch Merkmale der Distinktion innerhalb der Grenzen der Sensibilität, obschon durch bloße Abstraktion gegeben, vermittelst der Negation dieser Abstraktion zur repulsiven Konkretion determiniert, ihrerseits durch Nichtsetzung des Nichtseins erlangen könne?“
Selbstverständlich erwartete er ein ebenso entrüstetes „Nein“ aus Schulzes Munde; aber zu aller
Weitere Kostenlose Bücher