Traumkristalle
sagte er zu Magnet, „daß in allem, was den Komfort des Lebens und das physische Wohlbefinden der Menschheit – ohne Bevorzugung der einzelnen – anbetrifft, unsere Zeit alle früheren Epochen ungemein überragt. Wie wäre es möglich gewesen, daß alle Schichten der Bevölkerung in gleichem Maße an den Vorteilen der Kultur partizipierten, hätte nicht der Fortschritt der Wissenschaften die Naturkräfte in so reichem Maße dienstbar gemacht und ihnen den Mechanismus der Arbeit so ausschließlich aufgebürdet, daß ein jeder ein menschenwürdigeres Dasein zu führen vermag? Wie wäre es möglich gewesen, die blutigen Revolutionen der verschiedenen Stände gegeneinander zu vermeiden, wäre nicht überall die Erkenntnis eingedrungen, daß nur im friedlichen Zusammenwirken aller Berufskreise der Ausgleich jener Unterschiede zu ermöglichen ist, welcher durch die individuelle Verschiedenheit der menschlichen Natur immer aufs neue gesetzt wird. Nur die Einsicht in den Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft und das Ineinandergreifen der Wirkungssphären kann den ungünstiger Situierten veranlassen, sich mit dem zufriedenzugeben, was er seiner Kraft nach zu leisten vermag; und dieselbe Einsicht allein kann den Reichen und Mächtigen zwingen, seine Übermacht nicht zu mißbrauchen und aus freien Stücken bei einer gewissen Grenze des Erwerbes sich zu bescheiden, so daß die Vorteile der modernen Industrie und Technik wirklich der Gesamtheit zugute kommen. Und …“
„Erlaube“, unterbrach ihn Magnet, „die Tatsache muß ich zwar anerkennen, daß wir die Klippe der sozialen Frage in ihrer krassen Form nach den großen Kämpfen des zwanzigsten Jahrhunderts glücklich umschifft haben. Deiner Hervorhebung der Ursache, die du in der vernunftsgemäßen Überlegung finden willst, kann ich aber in nur sehr geringem Maße zustimmen. All diese Einsicht, alle theoretische Erkenntnis ist machtlos gegenüber der Gewalt des Erhaltungstriebes im Kampfe ums Dasein, gegenüber der aufgestachelten Lust an Besitz und Genuß und der Leidenschaft des Moments. Diese Kräfte konnten nur gebändigt werden durch eine Kraft des Gemütes, welche unsern Willen in gleich mächtiger Weise zu erregen und zu binden vermag. Sie konnten nur überwunden werden durch ein Ideal, wie es in jener herrlichen Zeit aufflammte und mit der Macht einer neuen Religion die Geister umfing, einer Religion, welche alle unhaltbaren und unzeitgemäßen Formen und Dogmen ausschied und jenen unsterblichen Kern des Christentums enthüllte, den ein Kant, ein Schiller vorahnend empfunden. Vielleicht hat die Überlegung, daß der einzelne nur im ganzen zu existieren und zu wirken vermag, daß die heilige Ordnung allein Staaten und Menschen erhalten kann, daß nicht das erreichte Ziel, sondern das Streben und Ringen allein das Glück enthält und daß ein jeder nur sich zufrieden fühlen kann in dem beschränkten Kreise, der die volle Betätigung seiner Energien zuläßt und abgrenzt – vielleicht hat diese Überlegung jenes Ideal allmählich erzeugt. Aber sie mußte erst in einer Reihe von Generationen durch fortschreitende Vererbung in Fleisch und Blut übergehen, daß heißt aus einem Schlüsse des Verstandes sich verwandeln in ein Axiom der sittlichen Anschauung; sie mußte zu einem Ideale werden, das hoch über allen Wechselfällen der Wirklichkeit als ein unverrückbarer Leitstern jede Entschließung bestimmt, jeden Widerspruch verstummen macht.“
„Und sollte dies alles nicht auch durch einen Fortschritt der Erkenntnis zu erreichen sein? Durch die ausgebildete Fähigkeit, in einem Augenblicksschlusse, ähnlich den Schlüssen des Taktgefühls, die ganze Reihe der Möglichkeiten zu überblicken und daraus diejenige Bestimmung zu treffen, welche dem eigenen Ansprüche und dem Recht der Allgemeinheit am besten entspricht? Das aber ist ein intellektueller Fortschritt, und wir befinden uns auf rein wissenschaftlichem Gebiete. Von diesem Fortschritt leite ich den Gesamtfortschritt der Menschheit ab. Wir alle sind einig darin, daß unser Zeitalter sich auszeichnet durch sein geistiges Gleichgewicht, durch seinen Edelmut, seine liberale Gesinnung, welche es unmöglich macht, in die Niederungen hämischen Streites, zur Absicht beleidigender Kränkung, zurückzukehren. Ich erkläre es geradezu für unmöglich, daß aus dem Streite entgegengesetzter Meinungen heutzutage ein persönlicher Haß, ja nur eine tatsächliche Anfeindung hervorgehen könne.
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